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Erstkontakte 1945, Erstkontakte 2019

Erstkontakte 1945, Erstkontakte 2019

Piotr Arcimowicz, der Direktor des Lausitzmuseums (Muzeum Luzyckie) hinter der Altstadtbrücke, hat in der neuen Ausstellung viele Relikte der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammengestellt. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Der junge Direktor des Lausitzmuseums in der ul. Daszynskiego 15 an der Neiße, Piotr Arcimowicz, ist der Gegenentwurf eines Historikers. Zackig, mit jugendlichem Ton, erzählt der Fan und Organisator komplexer Fantasy- und Gesellschaftsspielrunden über die Geschichte der Teilung der Stadt in einer Ausstellung, die Polen und Deutsche in ihren unterschiedlichen und zugleich ähnlichen Erfahrungen trennt und doch vereint.

Görlitz. Ohne Deutsch- und Englischkenntnisse hat Piotr Arcimowicz mit der Archäologin Malgorzata Zysnarska sowie Historiker und Halbtagslehrer Piotr Zubrzycki die Ausstellung „Im Neuland unter Fremden“ über die ersten Nachkriegsjahre im nun teilweise polnischen Görlitz auf die Beine gestellt, die bis in das kommende Jahr im Lausitzmuseum zu sehen ist. Die Texte im Museum sind dennoch komplett polnisch und deutsch. Dem Niederschlesischen Kurier erläuterte Arcimowicz seinen Zugang zum Thema und die Philosophie der Ausstellung.

Die Ausstellung ist zweisprachig, wollen Sie damit auch Gäste von der deutschen Seite der Neiße ansprechen?

Piotr Arcimowicz: Generell sind unsere Ausstellungen, seitdem wir vor 10 Jahren entstanden sind, zweisprachig. Wir gehen davon aus, dass unsere Themen andere sind, als die, die auf deutscher Seite behandelt werden oder sie haben einen anderen Fokus. Wir wollen zeigen, wie wir über bestimmte Dinge denken. Der Großteil unseres Publikums sind deutsche Görlitztouristen. Wir möchten, dass sie sich bei uns ungezwungen fühlen und auch mitbekommen, was wir hier präsentieren.

In der neuen Ausstellung zeigen Sie die Pionierzeiten in Ost-Görlitz ab 1945. Warum dieses Geschichtskapitel?

Piotr Arcimowicz: Das ist bereits unser zweiter Versuch sich diesem Thema anzunehmen. Generell muss man dazu sagen, dass wir uns als Regionalmuseum auf polnischer Seite in der Geschichte nach 1945 spezialisieren. Das hat einen einfachen Grund: Die Vorkriegs- und Kriegsgeschichte wird sehr gut durch das Kulturhistorische Museum und das Schlesische Museum auf deutscher Seite dargestellt. Wir wollen mit ihnen absolut nicht konkurrieren. Wir wollen unsere Geschichte präsentieren, die der Polen, die 1945 hierher kamen wie die Geschichte meiner Großeltern.

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Die Archäologin Malgorzata Zysnarska neben einem Foto eines polnischen Repatriantenkindes. Die Ähnlichkeit zu einem deutschen Vertriebenenkind ist frappierend. Foto: Klaudia Kandzia

Der Bruder meines Großvaters beispielsweise erhielt die Siedlungsnummer Eins. Dieses Dokument, der „Verleihungsakt Nr. 1“ (für das Recht eine Siedlerstelle in der Stadt einzunehmen) habe ich in Lauban (Luban Slaski) gefunden. Die Ausstellung ist eine Art Gedenken an die ersten Neusiedler. Als ich in die Grundschule ging wurden noch Themen wie die militärische Einnahme der Gebiete an der Lausitzer Neiße behandelt, heutzutage gibt es kaum Regionalgeschichte in den polnischen Schulen.

Dem will Ihr Museum entgegenwirken, denn Sie bieten Sonderführungen auf Polnisch und Englisch für Schüler an.

Piotr Arcimowicz: Ja, wir sind quasi ein Museum des ersten Kontakts. Wenn wir eine Ausstellung machen, wollen wir keine großen musealen Kunstwerke schaffen. Wir wollen erreichen, dass sich Kinder, für die unser Museum oft das einzige ist, das sie besuchen, nicht langweilen und so viel wie möglich erfahren. Deshalb gibt es Interaktives und viele Gadgets. In dieser Ausstellung beispielsweise können Kinder über ein Feldtelefon mit der oberen Etage verbunden werden. Alle Geräte, die wir ausstellen stammen aus den 40er und 50er.

Wer ist Ihr typischer Besucher bei dieser Ausstellung?

Piotr Arcimowicz: Die Präsentation hat sich noch nicht rumgesprochen, wir haben schon aus Platzmangel bislang auch keine Vernissage gemacht. Wir stehen auch noch vor der Tourismussaison, die im April startet. Es ist aber unser zweiter Anlauf zu dem Thema Görlitz nach 1945. 2011/12 hatten wir schon eine Ausstellung zu diesem Themenkomplex. Diese war jedoch etwas anders ausgerichtet. Ihr Schwerpunkt waren Zeitzeugenberichte.
Die neue ist allgemeiner gefasst und hat drei Ebenen. In der ersten bekommt der Betrachter Informationen zu Niederschlesien. Schrittweise nähert man sich dem polnischen Teil von Görlitz an und findet letztlich sehr lokale Geschichten.

Wie ist die erste Ausstellung aufgenommen worden?

Piotr Arcimowicz: Was mir besonders stark in Erinnerung blieb war eine Dame aus Deutschland, die in Görlitz lebte und von hier vertrieben wurde. Sie warf mir vor, dass wir Polen diesen Verlust und die Vertreibung an sich nicht verstehen könnten. Natürlich waren es traumatische Erlebnisse für die vertriebenen Deutschen. Meine Großeltern erlebten sechs Kriegsjahre. In diesen Jahren standen sie entweder erst unter der Okkupation des einen, dann des nächsten. Die Deutschen hier an der Neiße erlebten den Krieg in seiner ganzen Brutalität erst ab 1945, als die Front diesen Landstrich erreichte.
Wir sind in der Ausstellung auch nicht zur Tagesordnung übergangen, wenn es um die autochthone deutsche Bevölkerung geht. Wir haben einen Verbliebenen in Reichenau (Bogatynia) zu Wort kommen lassen. Man kann aber nicht über 1945 berichten, ohne die Vertreibung zu thematisieren. Hier sollte man weder zu dramatisch, noch zu abgemildert die Geschichte deuten.
Betroffene fragen oft, warum erzählen wir etwas genau in dieser Weise, wenn es doch ganz anders gewesen ist. Ganz einfach: Es liegen 70 Jahre dazwischen. Auch wenn wir einen hohen Grad an Wissen haben, sind wir nicht mehr in der Lage die Emotionen der Ereignisse von damals wiederzugeben. Manche unserer Zeitzeugen schäumen vor Wut, wenn sie über Deutsche sprechen – auch nach 70 Jahren noch. Wir gehen heute emotionsloser an die Zeit heran, aber wir wollten uns dennoch dieser, für alle Parteien schwersten, Zeit stellen.

Beide Erfahrungen gegenüberzustellen, geht das gut?

Piotr Arcimowicz: Das Gefühl des Provisoriums verbindet Polen und Deutsche. Die Deutschen schauten gen Osten und hatten die Hoffnung, dass sie wiederkehren könnten. Dieses Gefühl des Provisoriums hatten auch die Menschen, die aus den polnischen Ostgebieten kamen. Viele der befragten „Repatrianten“ (Anm.: Der Terminus fasste in der Propagandasprache die polnischen Neusiedler zusammen) berichteten, dass sie sich bewusst in der Nähe von Bahnhöfen niederließen, denn sie hatten das Gefühl, dies alles gehe bald vorüber und in Bahnhofsnähe kommt man schneller weg.
Wir berichten auch darüber, was in Polen kaum bekannt ist, dass 1945/46 sehr viele Deutsche festgehalten wurden und für uns arbeiten mussten, denn es gab einen Fachkräftemangel. Wir haben eine Chronik, die von der polnischen Stadtverwaltung über die hiesigen Arbeiter geführt wurde, aus der hervorgeht, dass es damals 350 polnische und 3.000 deutsche Arbeiter gab.
Erst kam der Zuzug ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter aus Deutschland, Lagerinsassen und anderen – wir dürfen ja z.B. auch nicht die zahlreichen 1949 gekommenen Griechen vergessen – damit war dann das Durcheinander perfekt. Auch darüber erzählen wir in der jetzigen Ausstellung.
Die Zeitzeugen berichteten, dass es am Anfang Missverständnisse zwischen Ostpolen und Menschen aus Zentralpolen gab. Vor allem die Ostpolen aus den nun an die Sowjetunion gefallenen Gebieten erlebten oft einen Kulturschock, denn es gab große Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Kresy (polnische Ostgebiete) und dem reichen Schlesien hier. Viele Errungenschaften der Technik waren ihnen genauso fremd wie das hiesige Kulturerbe. Die Ruhmeshalle/Dom Kultury, heute eine Abteilung unseres Museums, war bis 1946 völlig unversehrt. Die polnische Verwaltung hatte kein Personal diese zu bewachen und niemand hatte ein Bedürfnis überhaupt etwas Kulturfremdes zu schützen. Es herrschte die Meinung: Warum sollen wir deutsche Bilder bewachen?

Hatte dieses Gemisch der Kulturen eine Auswirkung auf die Identität der Ost-Görlitzer?

Piotr Arcimowicz: Natürlich; wenn jemand das polnische Görlitz besucht, empfehle ich ihm z.B. zu Weihnachten zu kommen. In einer Familie bekommt man dann Gerichte aus ganz Polen serviert. Väterlicherseits stammt ein Großvater von mir aus Ostpolen, seine Frau aus der Nähe von Warschau. Mütterlicherseits war mein anderer Großvater ein Gorale aus den Karpaten und die Oma kam aus Kielce. Ein Onkel von mir hat eine autochthone Deutsche geheiratet.
Selbst in den 80er und 90er Jahren verhielt man sich hier anders als in Zentralpolen. Zum Beispiel gab an der Neiße praktisch keine Solidarnosc-Bewegung. Hier wurden viele Soldaten angesiedelt, um an der Grenze Stimmungen in der Bevölkerung aufzuschnappen bzw. zu dämpfen. Man konnte sie jederzeit mobilisieren und musste sie nicht erst holen. Selbst in der Turów-Grube und beim Elektrizitätswerk kam es nicht zu Streiks.

Gibt es auch positive Aspekte dieser kulturellen Durchmischung?

Piotr Arcimowicz: Ich denke, die Toleranz ist hier stärker ausgeprägt als anderswo in Polen.

Sie zeigen auch den Alltag der polnischen Pioniere. Wie sah der aus?

Piotr Arcimowicz: Die neue Verwaltung hatte viel zu tun: Die vielen Deutschen, die nicht gehen wollten oder durften, Menschen die durch die Stadt strömen, die Grenze, zerstörte Brücken und überhaupt eine zusammengebrochene Verkehrsinfrastruktur.

Ich selbst habe noch aus meiner Kindheit diese Straße hier an der Neiße vor Auge. Hier wurden gleich nach dem Krieg Griechen angesiedelt und, nachdem man sie auch auf andere Städte verteilte, andere Menschen einquartiert. Solche, die ihr Leben nicht meistern konnten, pathologische Familien, Kleinkriminelle, Trinker. Die ul. Daszynskiego wurde zum Synonym einer schlechten Gegend. Der Alltag wurde vom Mangel dominiert. Es fehlte an allem, an Schulheften, Federhaltern, Schultaschen, Unterrichtsmaterial. Kinder schrieben in alten deutschen Heften, die sie fanden. Alles wurde zweitverwertet, auf Kartenmaterial wurden per Hand die deutschen Ortsnamen überschrieben. Solche Relikte haben wir viele in der Ausstellung.

Aber die Menschen wollten das Kriegstrauma vergessen. Abgesehen von den 70er Jahren gab es nie wieder in Ost-Görlitz so viele Tanzlokale, Kneipen und Gasthäuser wie gleich nach dem Krieg.

Wie wird die Ausstellung in der polnischen Presse wahrgenommen?

Piotr Arcimowicz: Wir gehen erst in die Werbungsphase. Noch ist nicht viel passiert. Aber mir ist klar, dass wir nicht alle Erwartungen erfüllen. Bei der ersten Ausstellung mussten wir lesen, dass wir den Aspekt des Martyriums der polnischen Nation zu wenig berücksichtigt hätten. Für mich stand jedoch im Vordergrund, dass wir nüchtern das Leben und den Alltag der Pioniere erzählen.

Till Scholtz-Knobloch / 13.03.2019

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