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Nur eine besondere Art, zu leben

Nur eine besondere Art, zu leben

Valerij beobachtet konzentriert das Display seines Blutzucker-Messgeräts, bevor er die Werte in die Tabelle einträgt.

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Das Spritzen mit dem Pen haben die Kinder bereits in ihrer Heimat gelernt, sie müssen es täglich mehrmals praktizieren.

Jedes Jahr kommen 20 Kinder aus Weißrussland mit Diabetes nach Kamenz. Hier lernen sie mit ihrer Krankheit zu leben, die für sie gar keine ist.

Kamenz. Es ist eine Szene, wie man sie zu dieser Jahreszeit ständig und überall beobachten kann: Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen jagt auf einem grünen Rasen einem Fußball hinterher. Gedämpfte Rufe erklingen, einem Gestürzten wird wieder auf die Beine geholfen, kurz darauf Torjubel. Einige Minuten später ist der Lärm verklungen. Die Jungen und Mädchen, die soeben noch ausgelassen Fußball gespielt haben, kann man jetzt im Inneren des Hauses antreffen, hinter dem der kleine Fußballplatz liegt – der früheren Kindertagesstätte in Kamenz-Ost. Hier sitzen drei von ihnen – zwei Jungen und ein Mädchen – um einen Tisch herum. Sie halten sich abgerundete Metallplättchen an den Zeigefinger und schauen dabei konzentriert auf das Display eines Geräts, das an ein etwas in die Jahre gekommenes Handy erinnert. Danach tragen sie Zahlen in eine Tabelle ein, die viele Spalten und Zeilen umfasst.

„Die Kinder lernen hier, wie man Blutzucker misst“, erklärt Lena Karas. Sie betreut gemeinsam mit drei weiteren Frauen eine Gruppe von weißrussischen Kindern, die sich auf Einladung des Vereins „Initiative Kinder von Tschernobyl“ e.V. zurzeit in Kamenz erholt. Das Besondere an diesen Kindern: Sie sind an Diabetes Typ 1 erkrankt. Seitdem 1996 erstmals Kinder mit Diabetes aus Weißrussland in Kamenz weilten, konnte sich in jedem Jahr eine Delegation auf den Weg in die Lessingstadt machen. „In diesem Jahr ist es also das 24. Mal“, erklärt Georg Tietzen. Der langjährige Vorsitzende der Kamenzer Tschernobylinitiative blickt auf diesen langen Zeitraum zurück, in dem es zahlreiche Höhen und Tiefen gab und die Politik den Hilfsaktivitäten manchmal Steine in den Weg legte, manchmal diese aber auch förderte. Derzeit gibt es kaum Behinderungen der Arbeit vonseiten der weißrussischen Regierung, „sie wird geduldet“, wie es Georg Tietzen einschätzt. Das war auch schon anders: 2005 erschien es unsicher, ob überhaupt noch Kinder zur Erholung ins Ausland reisen dürfen. 

„Die Regierung meinte damals, nicht auf ausländische Hilfsorganisationen angewiesen zu sein. Diese Sichtweise hat sich geändert“, berichtet der Vereinsvorsitzende. Heute lässt man die Helfer arbeiten, „solange sie sich an die vom Staat festgelegten Regeln halten.“ Und solange sie mit der Bürokratie klarkommen, die Genehmigungen von allen möglichen Instanzen bis hin zum zuständigen Minister verlangt.
Doch all dies nehmen die Kamenzer Helfer gern in Kauf, um den Kindern zu helfen. Kindern wie dem zwölfjährigen Roman, der in der Gebietshauptstadt Grodno lebt und gern Fußball spielt: „Das geht ohne Probleme, trotz der Diabetes“, versichert er. Aus der Hauptstadt Minsk kommt der 13-jährige Valerij, der gern „mit dem Zauberwürfel spielt und Karate trainiert.“ Und auch die gleichaltrige Nastja lebt in Minsk: „Ich beginne in diesem Jahr zu reiten und besuche eine Malschule.“ „Es sind ganz normale Kinder, welche die Diabetes nicht als Krankheit ansehen, sondern als eine besondere Art zu leben“, betont Inga Mamajko, die die Gruppe als Dolmetscherin begleitet. Sie ist – wie die anderen Betreuerinnen auch – ebenfalls an Diabetes erkrankt. Die Rate ist in Weißrussland höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die Statistik legt nahe, dass dies mit der Reaktorkatatstrophe von Tschernobyl zusammenhängt, doch offiziell wird dies nicht bestätigt. Umso wichtiger ist die Hilfe aus Kamenz, die nicht nur die unmittelbar betroffenen Regionen erfasst, sondern eben auch Gebiete wie Grodno und Minsk, die eigentlich in weiter Entfernung von Tschernobyl liegen. „Wir sind die einzige Initiative in Sachsen, die sich speziell um Kinder mit Diabetes kümmert, und meines Wissens die Einzige in ganz Deutschland, die Gruppenaufenthalte ermöglicht“, berichtet Georg Tietzen. 

Zwischenzeitlich haben Roman, Valerij und Nastja die Eintragungen in ihre Tabellen beendet. „Die Kinder berechnen jetzt ihren Brotfaktor und ermitteln, welche Menge Insulin sie benötigen“, erklärt Lena Karas. Wenig später stechen sie sich mit einem stiftartigen Gerät – es heißt tatsächlich „Pen“ – in eine Hautfalte am Bauch. Das Spritzen haben sie bereits zuvor in ihrer Heimat gelernt. Zum Ende dieser Woche endet ihr Aufenthalt in Kamenz. „Wir werden diesen Ort vermissen“, sagt Valerij. Und Roman bestätigt: „Ich würde gern noch etwas länger hier bleiben.“ „Ich habe hier gute Menschen kennen gelernt, aber ich vermisse meine Familie“, sagt Nastja. Den Kontakt untereinander werden sie aufrecht erhalten – die moderne Zeit bietet schließlich genügend Möglichkeiten dafür. Und im nächsten Jahr werden wieder 20 Diabetes-Kinder aus Weißrussland nach Kamenz kommen – dann zum 25. Mal.

 

Uwe Menschner / 25.08.2019

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