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Seltene Einblicke in ein europäisches Jahrhundertleben

Seltene Einblicke in ein europäisches Jahrhundertleben

Die Künstlerin Ingerose Jähnichen-Kucharska vor einem der Lieblingsbilder ihres Mannes. Foto: B. Vogt

Bautzen/Carlsberg. Wenn ein Leben alt wird, erscheint es dem jungen oft wie ein Wunder. Denn alles, was dieses Leben in sich trägt, ist nicht mehr und war doch. Wenn ein junger Mensch hört, was das Leben alles schon früheren Generationen gab, wird er vielleicht um so freudiger und neugieriger in sein Eigenes aufbrechen. Dieser Prozess der Lebensweitergabe findet hauptsächlich in den Familien statt, manchmal hat man aber auch außerhalb dieses natürlichen Raums der Lebensweitergabe die Möglichkeit, an einem Menschendasein teilhaben zu dürfen.

Ein Mensch, der sich auf vielerlei Arten mitzuteilen versteht, ist Ingerose Jähnichen-Kucharska, genannt Ino. Anlässlich ihres 80. Geburtstages veranstaltet das Bautzener Museum eine Sonderausstellung, die nun verlängert worden ist. Der Oberlausitzer Kurier hatte die Möglichkeit, mit der betagten Künstlerin zu sprechen und einen Einblick in ihr bewegtes Leben zu erhalten.

„Ich schwänzte schon als Kind den Unterricht, um mit den Studenten zeichnen zu können“ erzählt „Ino“. Und das wohl auch mit Duldung ihres Vaters. Der in Bautzen durchaus bekannte Oberstudienrat Paul Jähnichen, nach dem auch ein Weg im Humboldthain benannt ist, fand trotz oder vielleicht auch wegen seiner pädagogischen Verantwortung diesen kleinen Ausbruch seiner Tochter aus dem Bildungssystem nicht so schlimm. Und schließlich kam sie dadurch auch in Kontakt zu Professor Helmut Trauzettel, der sie nach der Schule nach Dresden zum Architekturstudium holte. Damals musste sie im ersten Semester als noch Maurerin arbeiten. Heute würde man das als Praxissemester bezeichnen, aber damals ging es wohl etwas rauer zu. Zumindest hat man diesen Eindruck, wenn sie erzählt, wie sie als junge Frau mit den Mörteleimern über die Gerüste musste.

Beim Skifahren lernt sie später Ihren zukünftigen Mann, Stanislaw Kucharski, kennen, der Professor in Warschau ist. Sie verlieben sich und sie zieht mit ihm nach Polen. In der Hauptstadt der damaligen Volksrepublik Polen hat sie die Möglichkeit, mit zahlreichen Kreisen des gesellschaftlichen Lebens in Kontakt zu kommen. Besonders unter den Menschen, die wie sie aus einem andern Land kommen, aber auch mit der polnischen Elite der Vorkriegsjahre pflegt sie den Umgang. „Ich habe ein Fünkchen beigetragen zur Völkerverständigung“ sagt sie und lacht. Doch wo das Licht ist, gedeiht auch der Schatten. In Polen wird der Kriegszustand ausgerufen, überall stecken Spitzel und zahlreiche Menschen werden verhaftet: „Bei dem Wort „abgeholt“ zittere ich noch heute“ gibt sie zu bedenken. Als schließlich wenige Wochen nach ihrer Mutter auch noch ihr Mann stirbt, muss Ingerose Jähnichen-Kucharska langsam die Rückkehr in ihre alte Heimat vollziehen und zieht 1996 nach Carlsberg. In der Oberlausitz ist sie viele Jahre neben ihrer künstlerischen Arbeit auch als Dozentin tätig und lehrt verschiedene Zeichenstyle, Gartengeschichte und Gartengestaltung.
Der „Garten“ war für sie dabei zeitlebens nicht nur ein Thema für die künstlerische Arbeit, sondern ist für sie auch Lebensraum geworden. Bereits früh entwarf sie Gartenpläne, auch später für Ihren Garten „Paradisino“. Der steht inzwischen unter Denkmalschutz und wird nach wie vor von der Künstlerin unterhalten. Dort haben auch die Rosen ihren Platz. Für die hat sie eine besondere Leidenschaft, die ihr auch schon eine Auszeichnung einbrachte.

In ihrem Haus empfängt sie auch Besucher oder macht Musik, ein weiterer wichtiger Bestandteil ihres Lebens. So spielt sie noch heute Geige im Collegium Musicum novum Kamenz und bei dem Pulsnitzer Instrumentalensemble. Auch das Klavier ist ein lebenslanger Begleiter. Der Schwerpunkt ihres Schaffens bleibt aber wohl das Malen. Auch wenn sie betont, dass sie gar nicht unbedingt die sei, die dann auch malt: „Ich lasse mich führen“, beschreibt sie ihr Erfahren. Ein Gefühl, was der eine oder andere vielleicht auch schon gespürt hat, wenn er eine Tätigkeit ausführte, die vollkommen ausfüllt. Der ungarische Philosoph  Mihály Csíkszentmihályi hat dafür das Wort „Flow“ entwickelt, was heute eher umgangssprachlich gebräuchlich ist. Aber am Ende bleibt es doch eine individuelle Erfahrung. Auch bei der Entstehung ihrer Bilder gebe es einen Prozess, der dabei oft über die Reduktion in die Abstraktion führt. „Das kann man nur sagen, das sieht keiner“ erklärt sie.

Zu sehen ist ein kleiner Einblick in das Schaffen von Ingerose Jähnichen-Kucharska noch bis zum 1. Januar im Bautzener Museum. Neben den Aquarellen sind auch verschiedenartigste Keramiken, Schmuck und Zeichnungen zu bestaunen. Die Arbeiten lassen nicht nur die Biografie der Künstlerin aufscheinen, sondern verarbeiten besonders auch ihr so wichtige Themen wie die des Gartens oder auch ihre zahlreichen Reisen. „Jedes Bild hat seine Geschichte“ betont sie.

Der Besucher hat in dieser Ausstellung die Möglichkeit, Einblicke in das so bewegte Leben und Schaffen der Künstlerin zu erlangen. Dieses ist in einer seltenen Verbindung lokal und global gleichermaßen. Und dieser sich verschenkende Reichtum prägt auch das Wesen der Künstlerin und ist gerade heute wieder so notwendig, wo Menschen abermals übereinander herfallen und sich gegenseitig zugrunde richten. Aber wie heißt es in den letzten Zeilen ihres Gedichtes „Lebensraum Europa“?:


Aber überall
essen die Menschen Brot
weht der Wind
über Gras und Korn.
 

Benjamin Vogt / 25.10.2022

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