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Vom Wind of Change irgendwie verweht

Vom Wind of Change irgendwie verweht

Beim Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit war es am 2. Oktober noch leer, ehe die Massen tags darauf einrückten. An der windigen Förde flatterte am 2. Oktober so manche Tourismusinformation aus Görlitz daher zunächst davon. Foto: Dirk Uloth

Der Tag der Deutschen Einheit bringt Görlitz – dank des Zipfelbundes – einmal im Jahr in den Fokus der bundesweiten Aufmerksamkeit. Als einzige Stadt der ehemaligen DDR im Zipfelbund war die Neißestadt wieder einmal Botschafter und Indikator der inneren Einheit bei den Feierlichkeiten in Kiel zugleich. Doch die Innere Einheit blieb auch im 30. Jahr nach der Wende in Kiel eine politisch behauptete Größe.

Kiel. „Es ist schon eine tolle Sache, dass der Zipfelbund als eine Art 17. Bundesland der Bundesrepublik verstanden werden darf. Für uns vier Bürgermeister der nördlichst gelegenen Gemeinde Deutschlands, List auf Sylt, der westlichst gelegenen Gemeinde Selfkant, von Oberstdorf ganz im Süden und eben von Görlitz als östlichster Stadt Deutschlands ergeben sich daraus Möglichkeiten mit vielen Vertretern aus der Bundespolitik ins Gespräch zu kommen“, betont Oberbürgermeister Ocativan Ursu nach der erstmaligen Teilnahme als Görlitzer Stadtoberhaupt an den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit, die jährlich am Sitz des Bundesratspräsidenten und damit dieses Jahr in Kiel bei Ministerpräsident Daniel Günther stattfand. So habe er u.a. Gelegenheit zu Gesprächen mit Daniel Günther oder auch dem Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, gehabt. Letzteres sei z.B. im Hinblick auf gemeinsame Strategien sinnvoll, die sich aus dem anstehenden Kohleaussicht für beide Seiten ergeben.

Als „17. Bundesland“ kann man den Zipfelbund insofern verstehen, als dass er die Gelegenheit hat, sich gleichrangig neben den 16 deutschen Ländern zu präsentieren. Keinem Verein, keiner Behörde etc. wird diese gleiche Ehre zuteil. Die vier Bürgermeister nehmen beim Festakt zwischen den Ministerpräsidenten und anderen Vertretern der höchsten Staatsorgane Platz, beim Bürgerfest baut der Zipfelbund sein Zelt neben denen der Bundesländer auf. In Kiel war die Lage nun besonders gut. Denn hier bildete der Stand der vier Gemeinden den Abschluss der Festmeile direkt zwischen dem Landtag von Schleswig-Holstein und der von den Massen angesteuerten Bühne des Norddeutschen Rundfunks (NDR). Und dies alles an der Flaniermeile der Stadt direkt an der Förde – der sogenannten Kiellinie.

Manchen Bundesländern, war es hingegen nicht einmal vergönnt, direkt an der Kiellienie am Ufer zu werben.
„Konkrete Zahlen über verteilte Görlitz-Prospekte kann ich leider nicht sagen, aber naturgemäß war der 3. Oktober viel besser besucht“, betont Eva Wittig von der Europastadt GmbH. Die Schleswig-Holsteiner genossen letztlich am 3. Oktober die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Festtag, der Kiel nach einem eher flauen 2. Oktober einen Massenauflauf bescherte.
Neben der Feierlaune der Ausflügler blieb die Feierstunde in der Sparkassenarena aus ostdeutscher Sicht zumindest hinter den Erwartungen zurück. Daniel Günther betonte, dass es Ostdeutsche nach dem Krieg ungleich schwerer gehabt hätten, da ihnen ein Marschall-Plan fehlte, Reparationen an die UdSSR zu leisten waren und so die letzten Kriegstrümmer in Dresden erst 1977 beseitigt werden konnten. Kollektive Erinnerungen würden sich daher erheblich unterscheiden. Dass die unterschiedlichen Totalitarismuserfahrungen jedoch zu unterschiedlichen Politikstrategien geführt haben könnten – dieses Verständnis ließ Günther nicht anklingen, wenn er etwa im Hinblick auf Staatskritik gönnerisch betonte, so schlimm sei vieles nicht: „Wenn Strom oder Wasser ausfallen, wird der Schaden repariert oder wenn er sagte: „Wir haben Journalisten, die frei und ungehindert berichten“.

Ein renommierter deutscher Redakteur wie Alexander Wendt hingegen hat in seinem Onlinemagazin Publico eingestanden: „Medienvertreter finden meist, dass ihre Branche keine inneren Probleme hat. Untersuchungen legen nahe: doch, hat sie“. Hintergrund für seine Feststellung war eine dänische Studie vom Juni 2018 über politische Präferenzen von Journalisten, die in Deutschland weitgehend unbeachtet blieb. So musste der deutschsprachige Leser auch auf die Basler Zeitung aus der Schweiz zurückgreifen, die schrieb. „Die Redaktionen sind kein Abbild der Bevölkerung“. Am häufigsten stünden Journalisten grünen Ideologien nahe. Es gäbe in den Redaktionen durchschnittlich drei Mal so viele Grüne und Feministen wie im Rest der Bevölkerung. Auf Platz drei folge der Sozialliberalismus. Und selbst der Kommunismus rangierte noch vor nationalkonservativen Haltungen. Vielleicht hätte Günther auch Anleihen beim ersten litauischen Staatspräsidenten nach Abschütteln des sowjetischen Jochs, Vytautas Landsbergis, nehmen können, der scharfsinnig feststellt, dass die Westeuropäer eben „70 Jahre Urlaub von der Geschichte“ genommen hätten.

Ohne Bewusstsein dafür sei eine Gesellschaft anfällig sich Ersatzreligionen zu schaffen. Deren oft verborgener Materialismus hätte dabei sogar eine Seelenverwandtschaft zum Kommunismus. So lange die Sonntagsreden den Ostdeutschen hingegen als einen aus materieller Unzufriedenheit Handelnden und Demokratie nicht verstehenden Klagenden missverstehen wollen, dürfte die Innere Einheit weiterhin vom seit 1989/90 wehenden Wind of Change verweht bleiben. Auch wieder 2019 an der windigen Förde...

Till Scholtz-Knobloch / 12.10.2019

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