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Wenn die Gefühle ausbleiben

Wenn die Gefühle ausbleiben

Tino Krusche leidet wie viele andere an Multipler Sklerose. In Bautzen leitet er unter dem Dachverband DMSG eine Selbsthilfegruppe.

Bautzen. Tino Krusche ist eigentlich ein unternehmungslustiger Mensch und zudem Vater von drei Kindern. Bevor es ihn einst wieder dauerhaft nach Königswartha verschlug, den Ort, in dem der als Kind bis 1972 gelebt hat, absolvierte der damals noch sehr junge Mann eine Ausbildung im Kraftwerk Boxberg. Danach folgte der Dienst bei der NVA in der damaligen DDR. Seinen Lebensunterhalt verdiente er schließlich in einem Rüstungsbetrieb in seiner alten Heimat. Dort drehte er Patronenhülsen für die russische Kalaschnikow. Mit gesundheitsgefährdenden Chemikalien kam er dabei nicht in Berührung, wie er selbst sagt. Die Arbeit an sich sei jedoch sehr stressig gewesen. Inwieweit der anstrengende Job von damals Schuld daran ist, dass der heute 53-Jährige unter einer heimtückischen Krankheit leidet, vermag Tino Krusche nicht zu beurteilen. Fest steht jedoch: Ärzte stellten schon damals bei ihm Multiple Sklerose (MS) fest. Das war Mitte der 80er Jahre. „Angefangen hatte alles damit, dass meine Hand einschlief“, erinnert sich der Familienvater. „Und das sollte sich so schnell auch nicht wieder legen.“ Mehrere Tage habe er mit dem Zustand leben müssen, bis ein Mediziner auf Durchblutungsstörungen tippte und ihm deshalb spezielle Bäder verschrieb. „Mit einem Mal waren die Symptome fort.“ Doch es sollte nicht lange dauern, bis die Beschwerden erneut zurückkehrten. Und nicht nur das. „Eines Morgens wachte ich auf und musste zu meinem Erschrecken feststellen, dass ich bis zur Hüfte kein Gefühl mehr in den Beinen hatte. Das Ganze spitzte sich weiter zu. Plötzlich sah ich alles doppelt.“ Bei einer Untersuchung im Krankenhaus stellte sich schnell heraus, dass Teile seines Gehirns aktive Entzündungsherde aufwiesen. „Mein großes Glück im Unglück war, dass ich in die Hände eines Spezialisten geriet, der sich um mich kümmerte. Er behandelte mich mit einer hohen Dosis Kortison.“

Sein Gesundheitszustand verbesserte sich daraufhin zusehends. Heute erinnert nichts mehr daran, dass er auch schon im Rollstuhl saß. Allerdings blieben weitere Attacken nicht aus. „Aber ich hatte erst einmal ein Mittel, das mir half.“ Später wurden ihm spezielle Medikamente verabreicht. „Vor der Wende mussten wir dafür nichts bezahlen. Seit 1990 jedoch haben wir einen Teil der Kosten selbst zu schultern – eben die Zuzahlung wie bei allen anderen Medikamenten. Den größten Teil jedoch übernimmt die jeweilige Krankenkasse.“
Mit „wir“ meint Tino Krusche seine rund 20 Mitglieder einer in Bautzen ansässigen Selbsthilfegruppe (SHG). Diese kommt seit 25 Jahren jeden dritten Donnerstag im Monat im „AWO Herz Treff“ in der Curie-Straße 63 zusammen. Am 14. September, dem 25. Jahrestages des Bestehens der SHG, trat ein neues Mitglied aus Taubenheim in die Gruppe ein. Deren Zweck und Anliegen ist, dass Betroffene vor Ort Ansprechpartner finden, die ihnen bei der Bewältigung der Krankheit in den jeweiligen Lebenssituationen helfen. Der Altersdurchschnitt der Mitstreiter beträgt etwa 60 Jahre. Einige von ihnen arrangieren sich schon lange Zeit mit MS. Denn: „Das typische Alter, in dem die Erkrankung auftritt, liegt zwischen 20 und 40 Jahren“, ist auf einer Fachseite im Internet zu lesen. Und: „Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer.“
Was Multiple Sklerose auslöst, darauf gibt es bis heute keine eindeutige Antwort. Wissenschaftler vermuten, dass sich hinter „der Krankheit mit den vielen Gesichtern“ eine Autoimmunreaktion des Körpers verbirgt. Das heißt: Das Immunsystem greift fälschlicherweise die Hüllschicht der Nervenfasern an. Die daraus resultierenden Verlaufsformen sind recht unterschiedlich. „Das reicht von Lähmungserscheinungen über Einschränkungen der Wahrnehmung und Spastik bis hin zum frühzeitigen Tod“, weiß Tino Krusche aus Erfahrungen der Vergangenheit. „Ich bin inzwischen der Auffassung, dass man mit positivem Denken an die Bewältigung der Krankheit herangehen muss. Dagegen sind Stress und Trübsal blasen eher kontraproduktiv. Mittlerweile geht es mir gut. Ich hoffe, dieser Zustand bleibt noch einige Zeit.“

Für den bevorstehenden Winter plant er wieder den Sprung ins eiskalte Wasser. Eisbaden ist zu einer seiner Leidenschaften geworden. Außerdem organisiert Tino Krusche Aktionen und Ausfahrten für seine Selbsthilfegruppe. In den Maltesern fand er dabei hilfreiche Hände. Sie unterstützen beim Transport. Vor allem aber sind sie in der Lage, die Rollstuhlfahrer ans gewünschte Ziel zu bringen, ohne dass diese ihr Gefährt verlassen müssen, an das einige der MS-Kranken inzwischen gefesselt sind.

In diesem Herbst ist noch ein gemeinsamer Ausflug nach Kirschau in die Körsetherme geplant. Tino Krusche als Chef der in Bautzener SHG ist zuversichtlich, dass alles wie geplant funktioniert.
Überschattet wird seine ehrenamtliche Tätigkeit nach wie vor von der Gewissheit, dass sich der momentane Gesundheitszustand jederzeit dramatisch verschlechtern und die MS in Form eines neuen Schubes dauerhaft zurückkehren kann. Auch der 13-jährige Sohn Jakob macht sich so seine Gedanken: „Oft schon habe ich meinen Papa beim Spritzen der Medikamente zugeschaut. Ich sorge mich um ihn.“

Übrigens: Bundesweit sollen inzwischen rund 130.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt sein. Weltweit sind es schätzungsweise um die 2,5 Millionen. Zu einem der prominenten Vertreter in Deutschland zählt, wie mehrere Medien übereinstimmend berichteten, Schlagerstar Howard Carpendale. Auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer leidet unter der Nervenkrankheit, deren Ursache noch immer nicht erforscht ist. Für sie alle gibt es jedoch Hoffnung, dass die Wissenschaft eventuell schon in absehbarer Zeit einen Durchbruch landet. Frühestens im kommenden Jahr könnte in Österreich ein neues Mittel an Probanden getestet werden.

Ein Forscherteam um den Wissenschaftler Christian Gruber befasst sich mit einem Stoff, der eigenen Angaben zufolge die klinischen Anzeichen von MS zu stoppen vermag. Er werde aus einer in Afrika beheimateten Heilpflanze gewonnen, hieß es bereits im vorigen Jahr in einem Beitrag der Augsburger Allgemeinen. In der Bautzener Selbsthilfegruppe kommen solche Neuigkeiten sicherlich gut an.

Roland Kaiser / 27.09.2017

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