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Görlitz: „Stadt des Unrechts statt Weltkulturerbe“

Görlitz: „Stadt des Unrechts statt Weltkulturerbe“

Matthias Lechner beteuert, er werde seinen Kampf erst beenden, wenn den Opfern des Deponieverkaufes noch Gerechtigkeit zuteil werde. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Matthias Lechner, Görlitzer Oberbürgermeister a. D. wehrt sich seit Jahren gegen die „Diskriminierung von sechs Görlitzer Bürgern in Folge des unsinnigen Deponieverkaufs“ von 1998. Aktuell will er dies mit einer so betitelten Resolution an den Stadtrat tun. Spätestens seit dieser Affäre habe der politisch-gesellschaftliche Umgang in der Stadt schweren Schaden genommen, berichtet er Till Scholtz-Knobloch im Interview.

Herr Lechner, mit leichter Verspätung Gratulation zu Ihrem 70. Geburtstag im Mai. So richtig zur Ruhe gekommen sind Sie aber auch im achten Lebensjahrzehnt nicht. Was treibt Sie zu ihrem Windmühlenkampf in Sachen Deponieverkauf an, den das politische Umfeld der Stadt eigentlich längst ad acta gelegt hat?

Matthias Lechner: Es sind zwei Dinge, die mich antreiben. Als Oberbürgermeister habe ich den damaligen Geschäftsführer der Stadtreinigung Görlitz GmbH Hartmut Gottschling überzeugen können, in einer schwierigen Situation zu helfen. Dass er als politisches Bauernopfer persönlich völlig diskreditiert war und zugleich für Vergehen anderer mit 200.000 DM dennoch haftbar gemacht wurde, kann ich doch nicht abschütteln. Ich möchte mir noch ein Stück Gewissen bewahren, das im politischen Geschäft heute oft schnell vergessen ist. Neben Gottschling trifft der Schaden fünf weitere verdiente Bürger der Stadt.

Das Thema Diskriminierung wird heute immer häufiger angefasst. Aber wieso sollte es ausgerechnet hier Halt machen? Eine massive Diskriminierung besteht eben auch hier in einer nachteiligen Ungleichbehandlung durch die Stadt mit der Haftbarmachung für einen Schaden in Höhe von einer Million DM, den die betroffenen sechs Görlitzer aber gar nicht zu verantworten hatten im Verhältnis zu 20 Stadträten von 1998 und dem damaligen Oberbürgermeister Rolf Karbaum für die Verursachung eines Vermögensschaden in Höhe von 25 Millionen DM für die Stadt – also den steuerzahlenden Bürger. Die Verantwortlichen sind bis heute ja nicht zur Verantwortung gezogen worden. Der Görlitzer Stadtrat hat durch sein Versagen und Pflichtverletzungen Schadenersatzforderungen nicht verhindert.

Zur Erinnerung: Die sechs Betroffenen konnten nur durch einen Vergleich von 2009 der totalen Existenzvernichtung entgehen.
Der sexuelle Missbrauch in den Kirchen wird derzeit akribisch öffentlich durchleuchtet – und diese Görlitzer Affäre kommt nie zum Abschluss. Eine rigorose Aufklärung steht weiterhin aus und die erwarte ich hier ebenso.

2019 hatte der Görlitzer Stadtrat sein Bedauern gegenüber den Geschädigten ausgesprochen. Ein Eingeständnis nach 21 Jahren zeigt doch, dass das Gewissen lange drücken kann.

Matthias Lechner: Moment, am 7. November 2019 hatte der Stadtrat beschlossen, dass man bedaure, sich bei den verdienstvollen ehemaligen Aufsichtsräten aus haftungsrechtlichen Gründen nicht entschuldigen zu können. Mit dieser Einschränkung erklärt man eigentlich, dass ein Entschädigungsanspruch bestehen würde. Mirko Schulze (Linke) hatte zuvor schon einmal nach vielen personellen Wechseln im Stadtrat erklärt: „Wir sind nicht für das damalige Geschehen verantwortlich, stehen aber in der Verantwortung.“ Ich bin ihm bis heute dafür dankbar. Erst Recht vor dem Hintergrund, dass mit den Opfern eigentlich nie gesprochen wurde.

Die Landesregierung hatte einst den Druck zur Deponieveräußerung mit Bedingungen aufgebaut, die auf der Stadt lasteten. Den Vermögensschaden hatte die Stadt, aber die Aufsichtsräte waren dagegen und wurden abgewählt. Und zur ’Belohnung’ folgte der Regress für etwas, für das sie nichts konnten. Dem öffentlichen Eingeständnis der Verursachung eines horrenden Vermögensschadens von 25 Millionen DM durch den Stadtrat, einer Entschuldigung bei den zu Unrecht Betroffenen sowie der Rehabilitierung und dem Schadensersatz verweigern sich Stadtrat und Oberbürgermeister nach 23 Jahren noch immer.

Wie konnte es sein, dass sich die Stadträte 1998 über ausführliche Begründungen von Stadtrat und Aufsichtsrat Hans Ulrich Lehmann hinwegsetzten, der erläuterte, dass die Stadtreinigung GmbH die Deponie im Auftrag des RAVON (Regionaler Abfallverband) errichtet hat und deshalb die Deponie niemals unter Wert verkaufen darf? Im November 1997 lag ein Rechtsgutachten vor, das den Bewirtschaftungsvertrag zwischen SRG (Stadtreinigung) und RAVON untersuchte, der bis 2010 lief und RAVON verpflichtete, die Betriebskosten an SRG zu bezahlen, selbst wenn kein Müll angeliefert werden würde. Das hatten Stadträte offenbar am 3. Dezember 1997 verstanden, als der Beschlussantrag zum Deponieverkauf abgelehnt wurde. Am 16. Juli 1998 hat dann eine Mehrheit völlig den Verstand verloren und dem Verkauf – oder besser einem 25 Millionen–DM-Schaden – zugestimmt. Und diese Fakten werden bis heute vertuscht. Man muss also bis heute fragen, welche Geister eigentlich dahinter stehen.

Die Kette langer Versäumnisse mal dahingestellt – liegt es nicht in der Natur der Sache, dass nach über 20 Jahren zunehmend Erinnerungen schwinden und ganz andere Handlungsträger sich sicher lieber aktuellen Fragen widmen wollen?

Matthias Lechner: Ich hatte Mirko Schultze bereits erwähnt. Viel zu spät hatte davor Ende 2007 der damalige und Immer-noch-Stadtrat Dr. Rolf Weidle als Fraktionsvorsitzender der Bürger für Görlitz in einem Interview zugegeben, dass durch den „politisch erzwungenen“ Verkauf der Deponie auf Wunsch der sächsischen Staatsregierung der Stadt ein finanzieller Schaden in zweistelliger Millionenhöhe entstanden sei und dass Falsche die Zeche zu bezahlen hätten. Ich hatte seinerzeit in Sachen der Aufarbeitung zunächst ein gutes Gefühl, auch wenn das Wort „erzwungen“ unsinnig ist, weil die Stadträte natürlich auch anders hätten abstimmen können.
Aber Dr. Weidle ist umgefallen. 2007 bestand noch die Gelegenheit Schadensersatzforderungen gegen den früheren OB Rolf Karbaum zu stellen. Nachdem mir Rolf Weidle seit Monaten nicht einmal mehr auf Fragen und Bitten geantwortet hat, habe ich ihn am 26. Mai in einem Brief aufgefordert zu seinen schweren Fehlern von 1998 zu stehen, zurückzutreten und sein Stadtratsmandat niederzulegen. Es ist menschlich schwierig, Fehler einzugestehen. Er war auf einem guten Weg und hat nicht die Courage aufgebracht, die Schlussfolgerungen logisch zu Ende zu denken. Ich konnte mir nicht verkneifen mit den Worten zu schließen: „Mit Rücktrittsforderungen gegenüber anderen haben Sie ja Erfahrung, wie sie 1998 und 2005 bewiesen.“
Quasi als Zeitzeuge hat Dr. Weidle etwas verspielt, auch wenn sich weitere Akteure von den folgenden Oberbürgermeistern ebenso in die Defensive drängen ließen.

Was kann man aus all dem 2021 schließen?

Matthias Lechner: Die Geschädigten haben einen Folgenbeseitigungsanspruch nach BGB § 839 Amtspflichtverletzung in Verbindung mit Artikel 34 des Grundgesetzes. Wenn sich der Rat einer Stadt nicht für das geschehene Unrecht an Mitbürgern verantwortlich fühlt, dann müsste man eine solche Stadt wohl eher als Stadt des Unrechts denn als Weltkulturerbe bezeichnen.

Für den Schaden am Volksvermögen wurde bislang niemand zur Verantwortung gezogen. Warum eigentlich hat diesen Skandal in der sogenannten Zivilgesellschaft oder den Medien niemand aufgegriffen? Die ganze Geschichte ist an politischer und menschlicher Verkommenheit nicht zu überbieten!

Ganz allgemein gefragt: Für kurzzeitige finanzielle Erfordernisse haben viele Gemeinden und der Staat schon Tafelsilber verscherbelt. Welche Rückschlüsse sind Ihrer Ansicht nach über den Skandal hinaus zu ziehen?

Matthias Lechner: Ich habe in meiner eigenen Amtszeit versucht im althergebrachten Sinne Vermögen für die Stadt aufzubauen. Z.B. mit der Gründung der Stadtwerke oder einer Sanierung der Stadthalle mit der Orgel. Investitionen an der Stadthalle sind heute so teuer, weil 2004 die Schließung beschlossen wurde und der denkmalpflegerische Bestandsschutz aufgehoben wurde.

Der Deponieverkauf war quasi der erste echte Sündenfall, Stadtwerkeverkauf, Schließung der Stadthalle 2004, der Verkauf der 9. Oberschule Cottbuser Straße, wo man nun an fast gleicher Stelle mit einem Bau der 5. Oberschule wieder gegensteuern muss, oder jüngst auch die Rücknahme des Stadtverkehrs von den Stadtwerken fallen in diese Reihe.

Entgegen der Versprechen wird der Verkehr für die Stadt also wieder teurer. Vom Ansatz her ist all das der gleiche Murks wie der Deponieverkauf 1998. Und wieder versagen Kontrollmechanismen. Im Westen Deutschlands gibt es heute wieder den gegenläufigen Trend, indem man versucht Versorgungsunternehmen wieder zurückzuholen und auch durch Corona sehen wir ja, dass der Abbau von Bettenkapazitäten durch Outsourcing eine verheerende Wirkung hatte.

Ein Fehler war m.E. auch die Übernahme der Kommunalverfassung 1994 nach baden-württembergischen Vorbild. Diese ist viel zu bürgermeisterlastig, u.a. weil der Oberbürgermeister die Sitzungen des Stadtrats leitet und damit das eigentlich höchste Organ der Stadt lenkt. Zuletzt haben wir das gesehen, als Octavian Ursu gegen den Beschluss des Stadtrates Gelder zur Planung der 5. Oberschule nicht im Haushaltsplan verankerte. 1990 hatten wir zunächst nach der hessischen Kommunalverfassung gearbeitet – eine viel bessere Option.
Beklagen muss ich ferner, dass Nordrhein-Westfalen z.B. eine Haftungsregelung für Stadträte hat, in Sachsen gibt es eine solche jedoch nicht.

Was macht der Privatmensch Matthias Lechner sonst im angebrochenen achten Lebensjahrzehnt?

Matthias Lechner: Nun ja, das ist ja derzeit alles kein normales Leben. Ich bin in einem Jahr 7.000 km weniger mit dem Auto gefahren als im Jahr zuvor, zum Urlaub an die Ostsee, Verwandtenbesuche, Treffen mit früheren Arbeitskollegen in Stuttgart, weil Corona so vieles ausgebremst hat. Ich lasse mich vorerst nicht impfen und muss mich fragen, wieso Gesunde wie ich nicht mehr zählen, sondern nur noch Geimpfte, Getestete und „Genesene“. Immerhin fahre ich als Gesunder oft und gerne mit dem Mountainbike um den Berzdorfer See. Und wenn die Gerechtigkeit in Görlitz umgesetzt ist, werde ich mich sicher auch anderweitig betätigen.
Vor allem: Es darf so ein wie hier beschriebenes Unrecht nie wieder geben.

Till Scholtz-Knobloch / 19.06.2021

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Kommentare zum Artikel "Görlitz: „Stadt des Unrechts statt Weltkulturerbe“"

Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

  1. Hartmut Gottschling schrieb am

    Als unmittelbar Betroffener danke ich dem Niederschlesischen Kurier, dass er den Deponieskandal nochmal thematisiert hat. OB a.D. Matthias Lechner hat die schweren Fehler des Stadtrates benannt, den finanziellen Schaden für uns Bürger daraus aufgezeigt und dass in Folge des Deponieverkaufs 6 Männer der Stadt für einen Schaden haften mussten, für den aber andere verantwortlich waren. Der ganze Skandal ist bis heute im Stadtrat weder vollumfänglich noch wahrheitsgemäß aufgearbeitet worden. Wir Betroffenen wurden niemals angehört. Die Oberbürgermeister haben die positiven Bemühungen der Stadträte für unserer Haftungsfreistellung bekämpft. Das ist in Deutschland beispiellos. Ist im politischen Görlitz „Unrecht“ überhaupt eine gesellschaftliche Kategorie oder interessiert Unrecht niemanden? Und genau hier zeigt sich der Widerspruch: Eine Stadt, in der Unrecht geduldet, wird kann doch kein Weltkulturerbe sein! Deshalb ist der Stadtrat aufgefordert, die ganze Wahrheit der Öffentlichkeit darzulegen und eine angemessene Entschädigung der Opfer zu beschließen.

  2. Ein:e Görlitzer:in schrieb am

    Meinem Vor-Kommentator gebe ich recht in dem Punkt, dass in diesem zwar langen, doch für die Liste von hier dargestellten Verfehlungen, Gesetzesbrüchen, Ungeheuerlichkeiten... kurz gesagt: himmelschreiendem Unrecht, ein Artikel zu wenig ist. In diesem geht es Schlag auf Schlag, wie bei Tatorten mit schnellen Film-Schnitten, nach drei Sekunden: Schnitt! und schon geht es um das nächste Mordopfer. Irgendwie vergleichbar, nur, dass die Opfer anders aussehen, als im Krimi. Da stecken keine Messer in den Körpern, verletzt wurden sie dennoch - und das nicht zu knapp. Da fließt kein Blut, doch Geld ist genug geflossen: auf den Boden, von dort in den Abfluss, dort versickert, weg für uns Görlitzer. Denn Geld verschwindet ja nicht einfach, doch es wechselt den Besitzer. Ich denke, dass Herr Scholtz-Knobloch mit seinem Artikel in eine riesige Eiterblase gestochen hat - dabei sollte er es nicht belassen. Die vielen Metastasten des Unrechts-Tumor-Herdes Görlitz müssen endlich lokalisiert und therapiert werden. Eine Serie bietet sich an: ein Thema ein Beitrag. Den Görlitzern kann es doch nicht egal sein, wie mit ihren Bürgern unmenschlich umgegangen wurde. Und die Verantwortlichen werden geehrt und geadelt. Wir erinnern uns: Ex-OB Karbaum wurde damals für seine gute Tat - nur nicht für Görlitz, für den er den Amtseid geleistet hatte, für den Verkauf der Stadtwerke an einen französichen Konzern zum Ritter geschlagen. Irgendwie verrückte Welt! Sie wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist auch Aufgabe der Medien. Dafür danke ich dem Autor.

  3. Sebastian Strauß schrieb am

    Sorry, aber das ist ganz schlecht geschrieben. Man vertseht bis zur Hälfte des Artikels gar nicht worum es geht. Und auch danach löst es sich nur teilweise auf.

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