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Mit Kleingeist in die Subventionshörigkeit

Mit Kleingeist in die Subventionshörigkeit

Matthias Lietzmann (links) trat 2005 in der Inszenierung „Die Pulververschwörung und das Heilige Gtrab zu Görlitz“ erstmals als „Schreyhals“ im Rahmen der Historienspiele auf dem Untermarkt.

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Auf der Kanzel des Rathauses wurde die Stadtpolitik verlautbart. Geht es die nächsten sieben Jahre ausgewogen zu? Foto: Till Scholtz-Knobloch

Matthias Lietzmann ist vielen Görlitzern als Aktivposten der von Hermann Rueth geschaffenen Historienspiele bekannt, deren Neuauflage – nach Lietzmanns Worten – an Kleingeistigkeit scheiterten. „Das deutsche Denken, dass man nur mit Industrie Geld verdient, bestimmt die Diskussion nach wie vor“, sagt er und mahnt die Besinnung auf den einzigen Schatz an, den die Stadt hat – eine einzigartige Kulturgeschichte.

Görlitz. Das noch immer leer stehende Kaufhaus ist geöffnet und Matthias Lietzmann nutzt die Gelegenheit: „Kommen Sie, schauen Sie sich nur die Säulen und die Vertäfelung an der Haupttreppe an. Indischer Halbedelstein – jeder Quadratzentimeter davon hat sündhaft viel gekostet“, sagt der Protagonist der einst die Stadt in ihren Bann ziehenden Görlitzer Historienspiele, die seit über einem Jahrzehnt selbst schon wieder Geschichte sind. Wenige Schritte später in der Berliner Straße geht er auf einen Touristen zu, der das Portal der Straßburg-Passage fotografiert. „Zu Zeiten des Kaiserreichs hat die Straßburg-Passage jeden Tag eine eigene Zeitung herausgegeben – zusätzlich noch eine Wochenzeitung“, erläutert er.

Während der gewöhnliche Passant über die Bausubstanz staunt, sich im Hier und Jetzt der Ein-Euro-Geschäfte und Dönerimbisse jedoch eher sofort wieder von der Strukturkrise erfasst sieht, bringt Lietzmann die Umkehrung der einst reichsten Stadt Deutschlands zum Armenhaus auf den Punkt: „Auf halbem Weg zwischen der vor München und hinter Hamburg damals drittgrößten deutschen Stadt Dresden und der Provinzhauptstadt Breslau, die damals größer als Köln, Frankfurt oder Stuttgart war, lag Görlitz auf der Sonnenseite des boomenden Deutschlands“. Wenige Tage vor dem Spaziergang mit Matthias Lietzmann durch die Stadt hatte das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung Zahlen für den gesamten Osten Deutschlands mit dem Westen in Vergleich gestellt. Gegenüber 1905 habe der Raum der einstigen DDR die Einwohnerzahl gehalten, der Westen habe in den gleichen 114 Jahren jedoch seinen Einwohnerbestand verdoppelt.

„Diese Entwicklung werde häufig übersehen und bedürfe einer besonderen politischen Berücksichtigung. Der ländliche Raum im Osten ist regelrecht ausgeblutet“ und müsse speziell gefördert werden, mahnte das ifo-Institut an, denn die Drift laufe weiterhin ungebremst ausein-ander.

In Praxisbeispiele umgesetzt heißt dies: Görlitz selbst hatte 1905 mehr Einwohner als z.B. Darmstadt, Münster, Freiburg, Bielefeld, Rostock oder allein doppelt so viele wie Cottbus, das heute in der Lausitz den Rest überragt und erst als DDR-Bezirkshauptstadt an Görlitz vorbeizog. Doch was heißt das eigentlich für die Stadt an der Neiße heute? Lietzmann betont: „Görlitz ist kein Industriestandort mehr und wird ein solcher auch nie wieder werden. Ich habe nichts gegen Software, Startups oder Umwelttechnologien. Aber das wollen alle. Punkten können wir nur mit einem Alleinstellungsmerkmal: einem einzigartigen Stadtbild mit 4.000 Kulturdenkmälern aller Jahrhunderte, einem Ratsarchiv, das die Stadt nahezu lückenlos vom Spätmittelalter bis heute dokumentiert, der Zeitmessung am 15. Längengrad oder Jakob Böhme. Wieso hat die Stadt bis heute keine explizite Werbung mit Böhme in anglikanisch dominierten Weltgebieten aufgenommen, obwohl Böhmes Philosophie diese wie kein anderer geprägt hat?“, fragt Lietzmann, der sich in der DDR als Nonkonformist mit Renovierungsaufträgen für die Kirche über Wasser hielt. Die ebenso berechtigten wie bohrenden Fragen sind ihm in die Wiege gelegt, denn schon die Eltern betrieben die letzte privat geführte Drogerie der DDR überhaupt in Görlitz.
Nach der Wende brachte Matthias Lietzmann ab 2002 die Historienfestspiele mit zum Laufen, für die die Karten wie warme Semmel weggingen. „Mozart ist DER Bringer für Salzburg mit Festspielen und Mozartkugeln. Als ich 2015 um eine Neuauflage der Historienspiele gekämpft habe, habe ich nach einem wohlwollenden ersten Gespräch bei der Stadt vom Bürgermeister nie wieder etwas gehört“, gibt sich Lietzmann über den scheidenden OB enttäuscht und legt nach: „Ziel- und planlos, ohne Charisma, und den Willen durch eigene Entscheidungen Ergebnisse zum Wohle der Stadt zu erreichen, kennzeichnen die zurückliegenden sieben Jahre seiner Amtszeit. Mark Twain hat einmal gesagt: ‚Ein Mensch, der nicht weiß, wo er hinwill, wird nirgendwo ankommen.’“

Das Dilemma der Orientierungslosigkeit sei jedoch älter. Große Chancen hätten viele versemmelt, die lieber sichere Gehälter beziehen, statt Visionen zu gestalten. Etwa schon in den 90er Jahren, als eine skandinavischer Freizeitkonzern auf dem Waggonbauareal Hotels und Bäder errichten wollte. Die Stadt habe sich für die Schließung kleiner Bäder mit historischem Ambiente entschieden, um ein funktionales Kleinstadtbecken zu bauen. „Wenige erinnern sich heute, dass Gottfried Kiesow, der Gründer der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der ehemalige Wiesbadener OB, der in Breslau geborene Achim Exner, die Einzigartigkeit von Görlitz erkannten und die Rettung der Bausubstanz auf den Weg brachten. Doch das meiste ist eine Hülle geblieben“, meint Lietzmann, der beklagt, dass Entscheidungsträger in der Stadt den Leuten auch unmissverständlich hätten erklären müssen, dass es in einer touristisch geprägten Stadt auch nach 22.00 Uhr laut werden darf. Tut man das nicht, bleibt man eben in der reinen Hülle wohnen und muss sich weiter auf Subventionen und Abhängigkeit einstellen“. Görlitz müsse wieder dahinkommen, wie einst im Kaiserreich groß zu denken und aus eigener Kraft die Einnahmesituation zu verbessern. „Die Illusion fängt damit an, die Stadt könne bei der Stadthalle federführend agieren. Wenn man einen Investor machen lässt und ihm keine Knüppel zwischen die Beine wirft, dann kann auch gerne etwas Elitäres entstehen, auch wenn sich Matthias Lietzmann dann keine Eintrittskarte leisten kann. Es ist aber viel besser, kaufkräftige Besucher lassen das Geld in der Stadt und ich bin bei Aufführungen nicht dabei, als dass ich wie andere auch ebenso nicht in eine geschlossene Stadthalle komme, aber niemand auch nur eine müde Mark sieht. Jetzt gibt es einen neuen Anlauf für sieben Jahre, in denen es hoffentlich mal mit dem Scheinhandeln vorbei ist“.

Till Scholtz-Knobloch / 29.06.2019

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