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Ukrainischer Spagat über die Neiße hinweg

Ukrainischer Spagat über die Neiße hinweg

Die Ukrainierin Alina ist ein Gesicht der bekannten Cheerleader-Formation „Inna-Show“. Für die 17-Jährige ist die Europastadt Görlitz ein Geschenk mit zwei sich ergänzenden Seiten. Foto: Chris Nüstedt

Die 17-Jährige Alina aus der Ukraine lebt seit vier Jahren an der Neiße und möchte nun ihre Familie zu sich holen, um diese in Sicherheit zu bringen. Görlitz als Europastadt könnte in ihren Augen ein idealer Anlaufpunkt für viele Ukrainer werden.

Görlitz. Man darf vor dem Gespräch mit einem 17-jährigen Menschen sicher ein Stück weit skeptisch sein, ob sich dieser der Tragweite seines Handelns bewusst ist. Doch bereits nach wenigen Sätzen ist klar: Die aus der 300.000-Einwohner-Stadt Poltawa in der östlichen Zentralukraine stammende Alina ist nicht erst seit dieser Woche erwachsen und sich der Verantwortung ihres Handelns bewusst.

Am Montag hat sie den Entschluss gefasst, ihre Mutter und ihren Bruder zu sich an die Neiße zu holen und schon am späten Montagabend berichtete sie der Redaktion quasi brühwarm: „Ich habe die letzten Tage am Tag bis zu 15 Mal mit meiner Mutter telefoniert und mittlerweile einen ganz guten Überblick über die Bedrohungslage in Poltawa und was das mit meiner Familie macht“. Nun stehe für sie fest, dass sie ihre Mutter und ihren Bruder möglichst zu sich holen muss, während der Vater nun natürlich zur Armee eingezogen werde.

Sie habe auch Großeltern und Cousinen, aber zu letzteren habe sie nicht wirklich Kontakt. Das macht das Problem überschaubar. Während ihre Mutter die Gefahr für sich herannahen sieht, zögere ihr Bruder, da er sich nicht von Freundin und Freunden verabschieden wolle. „Meine Mutter hört da stärker auf die Sirenen. In Poltawa ist der Krieg noch nicht angekommen, aber meine Mutti hat Kiew vor Augen und sieht, dass es alles eine Frage der Zeit ist“, sagt Alina. Ihre Mutter habe am Montag auch noch keine Einschränkungen bei den Medien erlebt, die Geschehnisse im ukrainischen Fernsehen verfolgt und sich über Soziale Netzwerke mit Freunden und Familienangehörigen ausgetauscht.

Alina ist bereits seit vier Jahren ein typischer Puzzlebaustein in der Europastadt, denn neben ihrem Zuzug aus der Ukraine vor vier Jahren auf die polnische Seite der Stadt Görlitz hat sie die Neißestadt von Anfang an als eine Einheit kennengelernt, in der alle, die mit ihr in Kontakt stehen und so auch sie selbst, quasi fliegend die Seiten wechseln.

Durch eine Zusammenarbeit der Universität Kiew mit der Hochschule Zittau/Görlitz sei sie an die Neiße gekommen und habe in Vorbereitung auf ein Studium das polnische Lyzeum besucht. Sie hat damit früh gelernt, in der Fremde auf eigenen Füßen zu stehen.

Die sprachbegabte junge Frau wuchs so zeitgleich sowohl in die polnische, als auch in die deutsche Sprache hinein. Mitunter äußert sie einen Gedanken mit polnischen Einschüben, da die slawische Sprache ihrer Muttersprache Russisch nähersteht.

Und damit ist auch schon die Zerrissenheit ihres Vaterlandes angesprochen. „In Poltawa wird Russisch gesprochen, wenn Ukrainisch, dann gemischt mit Russisch“, was schon ihre Großeltern gesprochen hätten. Auf den Dörfern im Umland höre man auch Ukrainisch, aber Sprache sei in ihrer Gegend kein Erkennungszeichen für die eigene nationale Option. Ihre eigene Familie stehe zur Ukraine, aber es gebe auch Anhänger Russlands. Anders stelle sich das in der Westukraine in Lemberg (L’viv) dar, wo praktisch nur Ukrainisch gesprochen werde. Die Lemberger, die bis 1918 zum Habsburgerreich Österreich-Ungarn gehörten, würden sogar den ukrainischen Dialekt in ihrem russlandnahen Teil der Ukraine verachten.

Grob gesprochen ist die ukrainische Sprache dort verbreitet, wo Gebiete des mittelalterlichen Russlands Jahrhunderte in den Händen des Großreiches Polen-Litauen in der polnischen Reichshälfte lagen, das Weißrussische hingegen ist die entstandene sprachliche Formung der einstigen litauischen Gebiete Polen-Litauens. Dies alles mit vielen Übergangsstufen. Für die junge Alina scheint die Geschichte hingegen weit weg zu sein. Sie betont, dass unabhängig der familiären Sprachnutzung und des Mischens mitten im Satz auf den Straßen die Jugendkultur ohnehin eine Einheit bilde. Ob Youtube oder Tiktok: Die Jugend Russlands und der Ukraine amüsiere sich über die gleichen Späße, das Russische bilde dabei die übergeordnete Verkehrssprache. „Wir Jugendlichen haben nur eine Kultur. Alles, was wir schauen ist auf Russisch“, bekennt sie.

Und so nimmt sie Mentalitätsunterschiede zu Görlitz am deutlichsten in der Art des Humors wahr. Bei Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj kommen bei ihr manche Erinnerungen an seine humoristische Fernsehvergangenheit hoch: „Er ist wirklich sehr gut“, glitzern ihr die Augen, wobei sie hinzufügt, dass dieser Humor ein Humor nach Drehbuch sei – „aber glaubwürdig gespielt“.
Dass er die grassierende Korruption im Lande ebenfalls nicht stoppen konnte, kommentiert sie so: „Zwei Jahre können sicher nicht Korruption beseitigen. In der Politik musst du viele Jahre Erfahrungen sammeln, die hat er vermutlich nicht“ und sie ergänzt etwas unerfahren in der deutschen Sprache unterwegs: „er probiert“. Aber im Krieg probieren? „Na ja, Russland hat früh um 4.00 Uhr geschossen“, fängt sie den Moment auf.

Trotz ihres jungen Alters ist ihr Gesicht manchem an der Neiße dennoch bereits vertraut. Als Teil der bekannten Cheerleader-Formation „Inna Show“ richtet sich die Aufmerksamkeit auf sie. Mit diesem Bekanntheitsgrad im Hintergrund soll sie in der Krise nun erst einmal für Flüchtlinge aus der Ukraine dolmetschen. Und auch „Cogito Zgorzelec“, die Grundschule und Lyzeum gleich hinter der Stadtbrücke wollen sie wohl gerne als Lehrerin anheuern. Ihren Lebensunterhalt verdient Alina schon jetzt damit, dass sie Ukrainer in Polen über das Internet in Polnisch und Englisch unterrichtet.

Dichter an der deutsch-polnischen Grenze kann man nicht unterrichten. Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) gilt so in jedem Fall für eine junge Frau, die eigentlich nur eines noch nicht weiß – auf welche Weise ihre Mutter und ihr Bruder rein praktisch nun zu ihr finden können. Das braucht scheinbar noch ein paar Tage mit 15 Telefonaten täglich. Aber hat sie für sich bereits eine Vision, wo sie in 10 Jahren stehen könnte? In Deutschland oder Polen? Sie überlegt und meint zunächst: „Hm, aber nicht in der Ukraine“, ehe sie anhängt: „Ich möchte meine Zukunft in Deutschland bauen, aber für viele andere ist Polen schon wegen der ähnlichen Sprache einfacher. Insgesamt ist Görlitz mit beiden Seiten also optimal! Es ist nicht nur für Ukrainer gut, das ist auch für Polen und Deutsche gut“, denkt sie und stellt fest: „Sie sollten dahin kommen, wo noch viel Platz ist und Görlitz hat noch so viel Platz.“

Till Scholtz-Knobloch / 05.03.2022

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