Direkt zum Inhalt springen
Info & Kommentare

Zur Sprechstunde bei Frau Puppendoktor

Zur Sprechstunde bei Frau Puppendoktor

Marlies Reuß ist Puppendoktor mit Leib und Seele. Unter ihren geschickten Händen ist bisher noch jede Puppe gesund geworden – egal mit welchem Wehwehchen und in welchem Alter sie zu der Löbauerin kam. | Foto: fum

Kranke Menschen gehen ins Krankenhaus, Puppen mit Wehwehchen zum Puppendoktor. Und Puppen aus der Oberlausitz mit defekten Armen, Beinen oder Köpfen zu Marlies Reuß nach Löbau. Die 61-Jährige macht in ihrer Werkstatt alles wieder heile – egal wie schlimm der Fall ist und welches Alter der Patient hat.

Löbau. In ihrer Werkstatt in der Johannisstraße 15 sieht es ordentlich nach Arbeit aus. Hier ein paar winzige Schuhe, dort Knöpfe, Garn und Nadeln. Etwas weiter ein Behälter mit Modelliermasse. Überall Stoffe. Und Puppen in den unterschiedlichsten Größen, mit den verschiedensten Krankheiten, für die natürlich ganz individuelle Heilverfahren angewendet werden. Marlies Reuß ist Puppendoktorin mit Leib und Seele. In jungen Jahren war sie in der Spielwarenbranche beschäftigt, hatte sich kurz nach der Wende selbstständig gemacht. 2005 zog sie in die Johannisstraße, hörte auf mit Spielsachen zu handeln und widmete sich fortan ausschließlich dem Kreativen. Inzwischen ist sie seit 18 Jahren Dr. med. pupp. und möchte diese Karriere auf keinen Fall missen.

Alternativer Text Infobild

Auch wenn noch die Augen fehlen und das Gesicht ein paar Kratzer hat – auch diese Puppe wird geheilt aus der Werkstatt von Frau Puppendoktor Reuß entlassen. | Foto: fum

„Ich bin eigentlich durch einen dummen Zufall dazu gekommen“, erinnert sie sich. „Der Mann einer Bekannten hatte sich versehentlich auf den Kopf einer Puppe gesetzt. Die Reparatur in einer Werkstatt in den alten Bundesländern sollte 80 Euro kosten. Das war ihr zu viel. Und ich fragte, ob ich es mal mit der ‚Heilung‘ probieren könnte. Seitdem habe ich es mir zum Ziel gemacht, immer zu versuchen, den Originalzustand wiederherzustellen.“ Also reparieren und restaurieren statt ersetzen. „Wenn noch Scherben vorhanden sind, ist das um so besser. Dann lässt sich auch ein völlig kaputter Kopf wieder modellieren“, erklärt die Puppendoktorin.

Inzwischen hat sie viele Bücher zum Thema durchgearbeitet, aber auch in der Praxis viel gelernt. „Jede Puppe bringt mich weiter. Es gibt immer wieder neue Herausforderungen.“ Allerdings wäre ihre Handarbeit für die meisten Kunden unbezahlbar, würde sie nicht eine gehörige Portion Idealismus mit in die Abrechnung bringen. „Ich sitze ja oft tagelang an einer Puppe, muss modellieren, trocknen lassen, verschleifen, wieder modellieren und verschleifen. Das dauert. Und das treibt den Preis nach oben. Mir macht es den meisten Spaß zu sehen, wie ich kaputte Körperteile wieder aufbauen kann.“

Sie habe schon ältere Frauen erlebt, die hätten geweint, als sie die reparierte Puppe aus ihrer Kindheit endlich in den Händen hielten. Mittlerweile ist Marlies Reuß als Frau Puppendoktor in der ganzen Region bekannt. „Es gibt sogar Kunden, die machen extra hier Urlaub, damit sie mir ihre ‚Patienten‘ bringen können.“ Bei manchen dieser Besuche hat die Löbauerin echte Raritäten kennen gelernt. „Ich hatte einmal eine Puppe mit vier Gesichtern in den Händen. Die stammte aus Frankreich. Der Vater der Kundin war in französischer Kriegsgefangenschaft und hatte dieses Exemplar danach mit nach Deutschland gebracht.“ Drückte man der Puppe auf den Bauch, drehte sie den Kopf und zeigte das nächste Gesicht. „Der Kopf bestand nur noch aus Scherben und auch der Drehmechanismus funktionierte nicht mehr. Das habe ich alles wieder in Ordnung gebracht.“

Die älteste zu ihr gebrachte Puppe war aus Wachs und stammte aus dem Jahr 1810. „Als ich begann, an ihr zu arbeiten, zerfloss das Wachs in meinen Fingern.“ Aber auch hierfür entwickelte Marlies Reuß eine spezielle Technologie. „Ich habe zuerst Spachtelmasse eingesetzt und den Wachs dann darüber modelliert.“ Auch Gelenkpuppen aus Ziegenleder hatte die Löbauerin schon unter ihren Fittichen. Wenn sie mit der Reparatur fertig ist, bekommt jede Puppe noch einen Patenbrief zugesteckt – mit dem Namen der Herstellerfirma und dem vermutlichen Entstehungsjahr. „Es gibt immer wieder Exemplare, die besonders schön sind. Aber ich repariere und restauriere natürlich auch ganz einfache Puppen. Selbst moderne Puppen, für die sich der Einsatz eigentlich nicht lohnt, aber die für manche Kinder unverzichtbar sind.“ Heute würden Puppen oft so hergestellt, dass sie nicht zu reparieren sind. „Aber auch damit komme ich zurecht“, meint die Puppendoktorin und lächelt verschmitzt. Unter ihren geschickten Händen hat keine Krankheit auf Dauer eine Chance.

Frank-Uwe Michel / 28.09.2016

Was sagen Sie zu dem Thema?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung

Die Mail-Adresse wird nur für Rückfragen verwendet und spätestens nach 14 Tagen gelöscht.

Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein, dass der angegebene Name, Ihre Email-Adresse und die IP-Adresse, die Ihrem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, von uns im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar gespeichert werden. Die Email-Adresse und die IP-Adresse werden natürlich nicht veröffentlicht oder weiter gegeben. Weitere Informationen zum Datenschutz bei alles-lausitz.de finden Sie hier. Bitte lesen Sie unsere Netiquette.

Kommentare zum Artikel "Zur Sprechstunde bei Frau Puppendoktor "

Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

  1. Christine Kloß schrieb am

    Der Artikel hat mir sehr gefallen, denn auch ich kenne die Frau Puppendoktor aus Löbau. Seit Beginn dieses Jahres hält sie einmal im Monat,(jeweils am 3. Mittwoch) bei mir im Bastelstudio in Görlitz am Sechsstädteplatz eine Gastsprechstunde ab.Und schon vielen wurde geholfen. Und sowas spricht sich rum. Wie im richtigen Leben hat Marlies Reuß nicht nur einmal auch puppen wieder hingekriegt, die schon "Falschbehandlungen" hinter sich hatten! Schön, wenn so ein seltenes Handwerk mit soviel Liebe ausgeführt wird. Ch4ristine Kloß Görlitz

Weitere aktuelle Artikel