Direkt zum Inhalt springen
Info & Kommentare

Eine Wohnung für den Stadtschreiber

Eine Wohnung für den Stadtschreiber

Rainer Michel steht kurz vor dem Ziel, was die Verwirklichung seiner Vision vom Görlitzer Literaturhaus anbelangt.

Görlitz soll einen Stadtschreiber bekommen. Das wäre an sich noch nichts so besonderes – Literaten, die für eine gewisse Zeit innerhalb ihrer Mauern leben, sich am kulturellen Leben beteiligen und – natürlich – schreiben, gibt es bereits in zahlreichen Städten. Doch mit dem künftigen Görlitzer Stadtschreiber hat es eine besondere Bewandnis, die eng mit dem Literaturhaus in der Alten Synagoge auf der Langenstraße verbunden ist.

Görlitz. Vor einiger Zeit stand in einem Zeitungsartikel, dass in der Alten Synagoge ein „Literaturcafé“ entstehen soll. „Das war so nicht ganz richtig“, erklärt Rainer Michel. Im Oktober 2012 hatte er gemeinsam mit seiner Ehefrau das etwas versteckt gelegene historische Gebäude von einer Erbengemeinschaft gekauft. Damals befand sich die Alte Synagoge – nicht zu verwechseln mit ihrem berühmten, 1911 geweihten Nachfolgerbau auf der Otto-Müller-Straße – in einem beklagenswerten Zustand. „Seit 2002 hatte die zweistöckige Halle leer gestanden und verfiel zusehends, weil das Dach an mehreren Stellen undicht war“, erinnert sich Rainer Michel. Für ihn und seine Frau war klar: Hier muss schnell etwas geschehen, damit dieses einzigartige kulturhistorische Denkmal nicht komplett verfällt.

Heute, fast vier Jahre später, ist ein Teil der Vision Wirklichkeit geworden. Die Alte Synagoge hat sich herausgeputzt, von Verfall keine Spur mehr. Mit viel Freude am Detail hat das Ehepaar Michel das frühere Gotteshaus saniert und dabei viel Wert auf Originalität gelegt. Das ging bis hin zum Nachgießen der verloren gegangenen Geländerstreben im Treppenhaus. Noch ist nicht jedes Detail fertig: So kommt noch der Original-Kronleuchter an den Haken, und über dem Großbogen wird, so wie früher, ein Bibelspruch in hebräischer Sprache zu lesen sein. Ende des Jahres wollen die Michels ihre Wohnung im oberen Stockwerk der Synagogenhalle, die dem Görlitzer Theater lange als Malsaal und Requisitenlager diente, beziehen.

Weitaus interessanter für die Öffentlichkeit als die Wohnnutzung ist jedoch das, was sich im unteren Hallenteil abspielt: Hier nämlich entsteht – und so muss es korrekt lauten – das Görlitzer „Literaturhaus.“ „Literaturhaus ist nicht einfach nur ein Begriff, sondern die Bezeichnung für eine ganz spezielle Liga von Veranstaltungsorten, von denen es in Deutschland bislang nur elf gibt und wo ich hinein will“, wie Rainer Michel betont.

„Auch wenn das vielleicht ein wenig vermessen ist.“ Görlitz wäre auf der Liste der Städte, die über ein Literaturhaus verfügen, eine der kleinsten. Darauf stehen unter anderem München, Hamburg und Dresden. Als Veranstaltungsort wird der Saal der alten Synagoge bereits seit eineinhalb Jahren genutzt, das letzte der bisher etwa 20 „Events“ waren die Jazztage - „eine ganz neue Erfahrung in guter Atmosphäre.“ Das Literaturhaus soll ein Ort der Begegnung und des Dialogs für Görlitzer Bürger, Touristen, Schüler, Studenten und Literaturinteressierte werden. Lesungen deutscher, polnischer und tschechischer Autoren, Vorträge und Diskussionabende prägen das Profil.

Alternativer Text Infobild

Die Alte Synagoge in Görlitz entspricht dem Idealtypus eines jüdischen Gotteshauses aus dem 19. Jahrhundert.

Ein besonderes Augenmerk will Rainer Michel auf Görlitzer sowie auf jüdische Autoren wie Gerhart Hauptmann, Mira Lobe oder Paul Mühsam richten. Das jüdische Erbe, das viel zur herausgehobenen Bedeutung von Görlitz im 19. Jahrhundert beitrug, soll eine angemessene Würdigung erfahren. Einen visuellen Höhepunkt im Untergeschoss bildet die originale Säule aus dem Jakobstunnel: „Sie stammt aus dem Jahre 1852 und ist damit genauso alt wie das Haus.“ Versehen ist die Säule, wie von der entsprechenden Behörde gefordert, mit sieben Feuer abweisenden Schichten.

Doch was hat es jetzt mit dem Görlitzer Stadtschreiber auf sich? „Für ihn richten wir derzeit eine Wohnung in der Alten Synagoge vor“, erklärt Rainer Michel. Der Schreiber soll im Literaturhaus leben, arbeiten und den Dialog mit den Görlitzern führen. Was ist nun aber das Besondere? „Unser Stadtschreiber soll von Schülern gewählt werden. Sie bestimmen, wer hier jeweils für ein halbes Jahr wohnen und arbeiten darf.“ Im Gegenzug erhält der Stadtschreiber die Aufgabe, die jungen Görlitzer mit Literatur in Berührung zu bringen. Man darf gespannt sein, für wen diese sich entscheiden. 

Uwe Menschner / 05.07.2016

Was sagen Sie zu dem Thema?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung

Die Mail-Adresse wird nur für Rückfragen verwendet und spätestens nach 14 Tagen gelöscht.

Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein, dass der angegebene Name, Ihre Email-Adresse und die IP-Adresse, die Ihrem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, von uns im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar gespeichert werden. Die Email-Adresse und die IP-Adresse werden natürlich nicht veröffentlicht oder weiter gegeben. Weitere Informationen zum Datenschutz bei alles-lausitz.de finden Sie hier. Bitte lesen Sie unsere Netiquette.

Weitere aktuelle Artikel