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Michael Kretschmer über Nuancen politischer Ehrlichkeit

Michael Kretschmer über Nuancen politischer Ehrlichkeit

Clemens Kießling (links) und Julian Nejkow sammelten im Smalltalk mit Michael Kretschmer Sympathiepunkte angenehmer Moderatoren, scheuten aber hier und da mehr Tiefe. Foto: Matthias Wehnert

Ministerpräsident Michael Kretschmer hat am 1. Mai 2022 in Görlitz am öffentlichen Podcast „Nach meiner Kenntnis sofort!“ teilgenommen. Doch deren Macher Julian Nejkow und Clemens Kießling bleiben ausgerechnet am Tag der Arbeit zu artig, um den Hörern wirklich neue Erkenntnisse mitzugeben. Der Niederschlesische Kurier hat genau hingehört.

Görlitz. 19 Folgen ihres Podcasts hatten die beiden Politologen Julian Nejkow und Clemens Kießling hinter sich, ehe mit einem Besuch des Ministerpräsidenten der nächste Imagesprung gelingen sollte.

Und wie von einem satirischen Podcasttitel zu erwarten, bemühte sich Clemens Kießling aus Boxberg-Zimpel auch gleich um humoristische Laune zur Eröffnung und eine Erklärung, wieso die beiden das tun, was sie tun: „Wir sind zu dumm für die Wirtschaft, zu schlau für den Aktienhandel“, witzelt Kießling, man habe sich gegenseitig gelangweilt. Nun, wo es Corona zulässt könne man ja „wieder nach vorne denken“. Wieso, wenn es Corona zulässt? Die Gelegenheit zu thematisieren, dass das Denken unter Corona erheblich gelitten hat, ist damit insofern schon passé.

Aber die sympathische Kurzweil im Stile eines Thomas Gottschalks scheint als Marschroute gesetzt. Ein paar persönliche Frotzeleien, Rückzieher bei Kontern und eine Portion Infotainment bestimmen die Strategie. „Michael, Deine roten Haare werden ja ganz langsam grau“, lautet ein erster Abtastversuch. „Und bei Euch?“ Die beiden Bartträger Nejkow und Kießling bekennen: „Kaum Zeit zur Körperhygiene“ und bleiben im vertrauensvollen Du: „Du feierst am Samstag Deinen, 48.“ Nein, der 47. ist es am Tage des Erscheinens dieser Gazette und der Görlitzer Nejkow gesteht ganz smart ein, dass es eben auch nicht zum Mathestudium gereicht habe.

Vor den Dreien liegen weit angesehenere Blätter mit der MoPo, der Bild und der Sächsischen Zeitung und der Ministerpräsident bekennt, ihn habe der SZ-Beitrag über Lügen in der Politik sehr enttäuscht. Den Schreck dies ausgesprochen zu haben, fängt er mit den Nachsatz auf, in der Politik lägen zwischen Lügen und Wahrheit doch viele Nuancen. Wenn man einen Podcast namentlich in die weitreichendsten ’Nuancen’ der Ehrlichkeitsskala einordnet und sich an „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen“ erinnert fühlt, wäre hier auch die Frage nach dem Kretschmer von 2021 erlaubt gewesen.

Der Ministerpräsident sagte damals bekanntlich: „Auch jemandem, der diesen Impfstoff nicht verwendet, werden nicht die Grundrechte genommen. Das ist eine absurde und bösartige Behauptung“, um dann doch zum Corona-Hardliner im Windschatten Markus Söders zu werden.

Seine Enttäuschung über den SZ-Beitrag habe darin gelegen, dass die Welt populistischer werde und zu einfachen Antworten neige, betont Kretschmer, der sich zu Podcastbeginn bei Begrüßung durch die Volkshochschule zu seiner Präsidentschaft des Sächsischen Volkshochschulverbandes bekannt hatte. Julian Nejkow versucht es nun noch vertrauensseliger: „Du nimmst die Sachen schon oft sehr persönlich, oder?“. „Nein“, viele Dinge nehme er sich nicht so zu Herzen. Fertig mache ihn vielmehr, „dass Dynamo dauernd verliert oder wenn RB nicht das Pokalfinale gewinnt.“ Der MP plaudert nun, dass es richtig sei, seine Kinder von der Öffentlichkeit abzuschirmen und dass er dennoch gerne allein zum Einkaufen gehe. Oder, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser „eine ganz tolle Frau“ sei. Weil diese wie er Telegram nicht mag? Parteifreund Norbert Lammert habe ja Recht gehabt, als er daran erinnerte, dass schon die Weimarer Republik daran gescheitert sei, dass es nicht genug Demokraten gegeben habe. Er werde jedenfalls nicht durch ein Spalier von Querdenkern gehen, „weil 99 Prozent von ihnen keinen klaren Satz sagen könnten.“ Und schriftlich? Gerade wo doch diese Woche die erste Ausgabe der Zweimonatsschrift „Aufgewacht“ der Freien Sachsen unter der Chefredaktion des Görlitzers Jochen Stappenbeck intellektuell betont anspruchsvoll erschienen ist.

Luxus der eigenen Meinung

Eine eigene „Mindermeinung“ verteidigt der Landesvater ungefragt dann jedoch sehr offensiv, bzw. eine Meinung, die nach seiner Sicht deutlich von der veröffentlichten abweicht. Beim Krieg in der Ukraine sieht er das Potenzial zum Flächenbrand, man dürfe nicht vergessen, dass Russland eine Atommacht sei. Die Diplomatie müsse eine Chance haben – die Türkei sei dabei der wichtigste Vermittler –, auch wenn die Ergebnisse letztlich einen offenen Bruch des Völkerrechts bedeuten würden. Das müsse man aushalten können.

Ein kalkulierter Querschläger gegen den Strom der CDU? Doch die beiden Moderatoren lassen dies so stehen, ohne nachzuhaken, ob sich der Ministerpräsident damit vielleicht eine Vorlage für einen würdevollen Rücktritt legen möchte, wenn es mit den Sympathiepunkten nicht besser wird und das Wahlvolk in Sachen Corona-Mauerbau nachtragend bleibt. Aber Chapeau! Bewusst auszuscheren – das kann heute, Taktik hin oder her, nicht mehr jeder...

Michael Kretschmer packt die Lust auf die Flucht nach vorn

Mit Kreativität punktet der Ministerpräsident zudem, als Kiesling und Nejkow ein Literaturratespiel starten wollen. Da man sich hier schnell blamieren kann schnappt sich Kretschmer einfach den Stapel, blättert und sinniert über die Titel. Auf die Bibel vom MP angesprochen, sagt Nejkow er sei Atheist, habe aber mit seinem Kollegen die Bibel als Bettlektüre studiert. „Das glaube ich Euch nicht“, wird Michael Kretschmer ernst und man spürt einen Hauch von Genervtheit bei ihm, die ihn angriffslustig macht. Aber es gibt eine Raucherpause, die eigentlich nur der Attackierte selbst zu brauchen scheint.

Nach der Pause darf sich Sozialwissenschaftlerin Franziska Stölzel in die Runde gesellen. Doch sie konzentriert sich vorrangig darauf, in ihren Ausführungen zum Strukturwandel erkennbar von „Lausitzer:Innen“ zu sprechen oder regionale Merkmale bedeutungsschwanger Settings zu betiteln.

Weil beim Sympathiegipfel doch etwas Substanz fehlt, stichelt Michael Kretschmer nun alle paar Minuten, wieso ihm denn ein Mineralwasser aus dem Schwarzwald kredenzt worden sei. Neben Thomas Gottschalk, liegt nun eine Idee Harald Schmidt in der Luft: „Ich sage ja zu Oberlausitzer Wasser“, obwohl ein bekannter Produzent aus Oppach die Veranstaltung zumindest erkennbar gar nicht gesponsort hat.

Ja zu Oberlausitzer Wasser

Ob Anstand oder Agenda – zur Frühschoppenzeit fällt im 1. Obergeschoss in der Jakobstraße 5a, wo Kate Winslet, Ralph Fiennes, Bruno Ganz und David Kross zu den Dreharbeiten von „Der Vorleser“ ein- und ausgingen, kein Wort zu brisanten Zukunftsfragen wie einem Sozialpunktesystem, wie oder ob das Währungssystem noch zu retten ist oder wieso die Politik immer größere gesellschaftliche Vertretungslücken unbearbei-teter Politikfelder duldet und mit Scheinthemen verschleiert. Liegt hier eine Ähnlichkeit zu einer Pressekonferenz vom 9. November 1989 vor, als Günter Schabowski in einer Dokumentenmappe kramte, in der die wirklich wichtige Info noch nicht enthalten war. In der Jakobstraße zwingt den MP niemand, den ominösen Zettel zu ziehen. Gibt das ein christdemokratisch-linkliberaler Diskussionstisch mit einem Nichtangriffspakt nicht her?

Am Ende bleibt Zeit für zwei Fragen aus dem Publikum. Die erste ist so artig, dass sie dem Autor dieser Zeilen nicht in Erinnerung blieb, die zweite Wortmeldung macht den „Braindrain“, also den Abfluss von Intelligenz und Verstand aus der Region zum Thema. Der aus dem Westen stammende Herr nimmt gar eine „Deintellektualisierung“ der Lausitz wahr: „Hier trocknet der Geist aus“. Wieso hole man im Strukturwandel mit manch neuen Forschungsfeldern nicht Geisteswissenschaften in die Region? Bei dieser Frage macht der Landesvater dann eine gute Figur, muss aber aus Zeitmangel mit der Botschaft schließen: „Kommt in den Osten, bleibt im Osten“. Und beim Händeschütteln am Ende Duzen sich alle weiter und haben das gute Gefühl eine Debatte geführt zu haben.

Till Scholtz-Knobloch / 08.05.2022

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