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Mit den Vitalpunkten hinaus in die Welt

Mit den Vitalpunkten hinaus in die Welt

Benjamin Cem Gencoglu lenkt die Geschicke des Kyusho Jutsu nun von der Neiße aus. Isabel Bastian von der Kampfkunstschule Goldener Drache e.V. präsentiert mit ihm in Kürze in Niesky einen Kurs für Erwachsene und einen für Kinder. Foto: TSK

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NSK-Redakteur Till Scholtz-Knobloch hat den Test gewagt und sich mit einem Doppelgriff außer Gefecht setzen lassen.

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Erst einmal tief Luft holen. Wo bin ich und wer bin ich eigentlich? Die Erinnerung kommt wieder. Fotos: Isabel Bastian

Der Mensch hat viele „Musikantenknochen“ – Stellen bei denen das Nervensystem Kapriolen schlägt. Kampfkünstler Benjamin Cem Gencoglu weiß diese zu nutzen. Seit kurzem von Görlitz aus hält er die Fäden des Kyusho Jutsu in Europa zusammen.

Görlitz. Geradezu leger steht Benjamin Cem Gencoglu auf der Matte mit Kampfsportgegnern. In verschiedenen Youtube-Videos von ihm muss man den Eindruck haben, hier werde ein Schauspiel vollzogen. Geradezu harmlos anmutende Stöße oder auch nur der Druck auf bestimmte Körperstellen bringen den Gegner nicht nur außer Gefecht, sondern versetzen ihn in einen Moment der Benommenheit, ja der KO-Starre.

Geht da alles mit rechten Dingen zu? Und falls das ganze funktioniert, wieso fristet diese Kunst des Kyusho Jutsu dann überhaupt ein Schattendasein? „Zunächst einmal muss man feststellen, dass viele asiatische Kampfkünste in ihren historischen Hochphasen die oft effektivsten und modernsten Kampfformen waren, die seinerzeit im direkten Duell zur Verfügung standen“, sagt Gencoglu. Ihre reine Ausübung in ihrer historischen Form sei daher eher einem Ideal und der sportlichen Ausformung zuzuschreiben. Gencoglu hingegen möchte den Kampfsportbegriff als solchen weiten. „Man muss das auch in der heutigen Zeit weiterentwickeln dürfen“, sagt er.
Die Kunst, die Vitalpunkte des Menschen „destruktiv zu nutzen“ stelle dabei „keine große körperliche Gewalt dar, aber eine schöne Technik, die effektiv ist. Das ganze ist nicht an einen Stil gebunden. Wenn man nicht die reine Sportart sieht, sondern den ursprünglichen Sinn jeder Kampfkunst, dann kann man Kyusho Jutsu auch integrieren“, sagt er ohne jede Scheuklappen.

Doch als ein Meister des 7. Dans im Kyusho Jutsu musste Gencoglu zunächst einmal selbst parallel zu Gebhard Lämmle Pionierarbeit leisten. Gencoglu schrieb den US-Amerikaner George Dillmann, der sein Wissen auch an seinen Landsmann Jim Corn weitergegeben hatte, mit den Worten an: Ich will mir keine CD von Ihnen kaufen, sondern einfach lernen“.  

Der Weg führte zum Erfolg, denn mit Corn gründete Gencoglu später den international tätigen „Okuden Circle“. Auf dessen Seite ist auch wieder die Frage präsent, wie Verteidigung heute insgesamt gedacht werden kann. Derzeit ganz vorne ist hier so auch ein Schusswechsel taktisch ausgewertet zu finden.

Benjamin Cem Gencoglu ist quasi das europäische Gesicht des Kyusho Jutsu geworden, ist weit gereist und kommt so auch gerade von einer Veranstaltung aus Lissabon zurück. Er wuchs in Darmstadt auf, doch die Liebe führte ihn zuletzt nach Oberschlesien. Mit seiner von dort stammenden Frau blieb er in Polen und zog nun auf die polnische Seite von Görlitz – wieder einmal erweist sich die Neißestadt als der Kristallisationspunkt für all jene, die zwischen beiden Welten wandeln. Seine Kinder gehen so auch für den Schulbesuch nicht über die Grenze auf die deutsche Seite. Dass in Polen Autoritäten noch etwas gelten, böte letztlich auch in der Bildung der Kinder einen Vorteil. „In einem so international angelegten Umfeld wie in meiner Kampfkunst ist die Himmelsrichtung aber eigentlich egal“, sagt er. Er müsse eben ohnehin in alle Richtungen ausschwärmen können.

Zu dritt sitze ich mit ihm und mit Isabel Bastian aus Kosel-Sandschenke, die die Kampfkunstschule Goldener Drache e.V. in Niesky führt und Gencoglu für einen Kurs nun nach Niesky geholt hat, am Tisch in einem Café am Bulwar Grecki in der Europastadt. Die Kraft ungewöhnliche Wege zu geben, habe er von seinem Vater, der es aber versäumt habe ihm die türkische Sprache zu vermitteln. „Ich verstehe zwar ganz gut, aber mein aktiver Sprachausdruck im Türkischen ist nicht so besonders“, räumt er ein. Am Nachbartisch sitzt eine große Gruppe Chinesen; Isabel Bastian kommt mit ihnen ins Gespräch – doch das ist schwierig, handelt es sich doch um Taiwanesen, deren chinesischer Dialekt ihr Probleme bereitet. 14 Sprachen spricht Isabel Bastian, was den internationalen Ansprüchen der Golden Drachen natürlich sehr gelegen kommen kann. Allerdings sei sie in einem Polnischkurs gescheitert – das habe an der schlechten Chemie zwischen ihr und der Polnischlehrerin gelegen. Womit wir beim Thema Triebkraft Spaß sind. Kann denn ein Kyusho-Jutsu-Training überhaupt Spaß vermitteln? Am 26. Februar um 19.00 Uhr startet in der Turnhalle der Hans-Christian-Andersen-Grundschule der Kurs (Anmeldung unter Tel.: 035894/ 30090; E-Mail: goldene.drachen@outlook.de).

„Isabel, Du wirst kotzen“, sagt der Meister des 7. Dans schmunzelnd. Im Ernst, man müsse wissen, worauf man sich einlässt, denn seine Kampfkunst könne nur funktionieren, wenn man selbst erfährt, wie man außer Gefecht gesetzt werde. „Diese Demut macht aber etwas mit dem Ego. Zudem gehe ich nur soweit, wie der Betroffene dies für sich zulässt. Man kann als Anfänger nicht einfach mal in ein, zwei, drei Wochen lernen wie es geht. Wer einfach nur grundsätzlich Sieger sein will, der muss sich einen Baseballschläger kaufen“, sagt er lakonisch. „Ich höre aber auf, wenn das Lachen aufhört“, gibt er den Gradmesser für sein Wirken vor. Die Kundschaft seiner Kurse sei angezogen von Faszination oder innerer Motivation. „Die meisten sind Suchende. Bei der Sportkarate haben sie schon Kampf und Geschwindigkeit kennengelernt. Man wird aber älter und ist auf einmal unterlegen. Da fragt sich manch einer: Da ist doch noch mehr, oder?“

In jedem Falle schreit die Sache nach einem Test. Ich will also wissen, ob die Lässigkeit der eingangs beschriebenen Videos nicht doch etwas aufgehübscht ist, bitte aber um eine echte Einsteigerdosis. Wir müssen ein Stück weiter gehen. „Bis zur Wiese – nur für den Fall, dass Du den Halt verlierst“, sagt der Meister.

Seine nach eigenem Bekunden vielleicht 5-prozentige Druckdosis an Schläfe und Unterkiefer lösen keinen echten Schmerz aus, wohl aber ein unangenehmes Gefühl. Ich spüre – drei Prozent mehr und ich wäre zu Boden gegangen. Ich muss den Kopf schütteln und mir kurz sagen: „Ich bin hier, alles gut!“ Die Konzentration kommt wieder, der Schreck sitzt trotz Ankündigung. Schmerzhafter war jedoch der Begrüßungsgriff auf der Altstadtbrücke in den Innenarm am Ansatz der Handfläche eine Stunde zuvor. Gencoglu kommentiert die Überraschung so: „Es gibt viele Musikantenknochen. Natürlich: Das ist anstrengend für die Nerven – nicht wenige die bei diesen Erfahrungen erst einmal einen ‚Chicken Dance’ machen“.

Eigentlich erstaunlich. Die ältesten Aufzeichnungen über die Vitalpunkte des Menschen sind schon 2.000 Jahre alt und stammen laut dem Meister von einem indischen Feldarzt, der sich mit Heilmethoden auskannte. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sich langsam dieses Wissen auch in den Westen aus. Auch Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Wiesbaden konnten sich zuletzt bei Gencoglu die Wirkung des Angriffs auf die Vitalpunke des Menschen studieren. Das Wissen über die Vitalpunkte ist ein so grundsätzliches Wissen, dass auch Kinder bei einem Kurs Einblick nehmen können. „Ihnen fehlt oft Kraft und Geschwindigkeit“, sagt der Meister, der umgekehrt viel mehr Angst vor den Kindern hat.

Aber da kommt Isabel Bastian ab Montag dem 2. März, 15.00 Uhr, mit ihrer Erfahrung ins Spiel, die Kindern einerseits Erfolge nicht einfach schenkt, aber mit weiblicher Intuition schon so manches Problemkind zu einem sich selbst reflektierenden und selbstbewussten Zeitgenossen mittels des Sports geformt hat.
 

Till Scholtz-Knobloch / 16.02.2020

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