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Ortstermin: Muss 85-Jährige aus ihrem Haus?

Ortstermin: Muss 85-Jährige aus ihrem Haus?

Richter Markus Kadenbach (4.v.l.) war jüngst persönlich auf dem alten Gutshofgelände in Königswartha, um das aktuelle Streitobjekt – einen abgerissenen ebenerdigen Keller – in Augenschein zu nehmen. | Foto: kk

Wer bekommt Recht? Die alte Dame, die ihr gemietetes Häuschen auf dem alten Gutshofgelände nicht verlassen will? Oder die Baufirma, die auf dem Grundstück im Auftrag des Investors einen Lebensmittelmarkt errichten möchte?

Königswartha. Entscheiden soll diese Fragen Richter Markus Kadenbach. Der Direktor des Amtsgerichts Bautzen ist mit dem Streit betraut. Seit Monaten treffen sich beide Seiten vor Gericht und legen ihre Argumente vor. Jede Aufforderung zu einer gütlichen Einigung ließen beide Seiten verstreichen. So wohnt die 85-jährige Ilse Schäfer weiter in ihrer kleinen Wohnung und die Atlas Bau GmbH aus Weimar reißt in direkter Nachbarschaft verschiedene Gebäude ab, deren Mieter bereits im vergangenen Jahr gekündigt wurden und ausgezogen sind. Die Baufirma verklagte die Seniorin auf Räumung. Zwar steht ihr Haus dem Neubau des Marktes nicht im Weg, jedoch würde die Anzahl der Parkplätze ein wenig beeinträchtigt, wenn es stehen bliebe.

Bereits Ende 2014 hatte der damalige Bürgermeister Georg Paschke mit Zustimmung des Gemeinderats das Areal an einen Investor verkauft, um darauf für Netto einen neuen größeren Markt zu errichten. Gleichzeitig könne das Gelände, auf dem überwiegend denkmalgeschützte, historische und sanierungsbedürftige Gebäude stehen, sinnvoll genutzt werden. Für die Seniorin, die seit über 60 Jahren auf dem Gutshofareal lebt und nicht weichen will, gab es vor allem moralische Unterstützung aus dem Ort.  

Eine neue Dimension nahm der Streit an, als Anfang August der Keller von Ilse Schäfer eingerissen wird. Sie erwirkte einen vorläufigen Baustopp. Und Richter Markus Kadenbach lädt wenige Wochen später zum Vor-Ort-Termin. „Normalerweise findet die Beweisaufnahme am Ort des Gerichts statt“, erklärt er in Königswartha. Doch in diesem Fall will er die Situation selbst in Augenschein nehmen. Denn eine Besonderheit gibt es beim Keller der Seniorin. Er befindet sich nicht unter ihrer Wohnung, sondern ist ebenerdig in einem anderen Teil des Gebäudekomplexes untergebracht. Ein Umstand, den der Bauleiter mit der Seniorin erörtert haben will. Die 85-Jährige bestreitet, dass dieses Gespräch und die Begehung des Kellers stattgefunden haben.

Geduldig hört der Richter die Erläuterungen der streitenden Parteien, fragt nach und macht sich ein Bild. Einige Königswarthaer verfolgen die Szenerie. Fotografien werden gezeigt, die bereits leere Räume zeigen. Ilse Schäfer berichtet, wie sie mit ihrer Schwägerin die Konserven gerettet hat, als der Bagger nah am Kellergebäude stand. Nun stünden sie in einem benachbarten Raum des noch intakten Gebäudeteils, erklärt die Seniorin.
Der Bauleiter erläutert, welche Gebäude noch abgerissen werden sollen und das Abbruchmaterial noch vor Ort geschreddert wird. Diese Abfälle würden benötigt, um die Fläche entsprechend aufzufüllen und eine Ebene für den künftigen Parkplatz zu schaffen. Die Seniorin berichtet von unerträglichem Lärm, Staub und Erschütterungen, die Baumaschinen und Schredder verursachen.

Nach einer guten halben Stunde sind alle Argumente vorgetragen. Amtsgerichtsdirektor Kadenbach benennt Donnerstag, 8. September, 15.00 Uhr als Entscheidungstermin für das Urteil zur Räumungsklage und den Widerspruch gegen den Abbruch. Bis zu diesem Termin ruhen die Abrissarbeiten weiter.

Doch bevor er nach Bautzen fährt, klärt er die streitenden Parteien über die möglichen Folgen des Urteils auf, das endgültig eventuell erst vor dem Landgericht als zweiter und letzter Instanz fällt. Richter Markus Kadenbach fragt Ilse Schäfer, ob sie sich vorstellen könne, in eine neue Bleibe umzuziehen und als Herrin der Situation den Zeitablauf im Moment noch selbst bestimmen zu können. „Nein, ich bleibe hier. Ich ziehe nicht aus“, erklärt die 85-Jährige bestimmt und erhält Beifall von den umstehenden Königswarthaern. Die Gegenseite nimmt es ohne Regung zur Kenntnis. Ein Kompromiss, wie ihn der Richter zu finden versucht, scheint hier in weite Ferne gerückt.

 

UPDATE zum Urteil:

85-Jährige muss vorerst nicht ausziehen

Königswartha. Das Urteil ist gefällt: Eine 85-jährige Königswarthaerin muss ihre Wohnung im Gebäudekomplex des Königswarthaer Rittergutes vorerst nicht räumen. Die betagte Dame war von der Atlas Bau GmbH Weimar, die auf dem Gutsgelände einen neuen Netto-Markt errichten möchte, auf Räumung verklagt worden. Allerdings ist die Angelegenheit damit aller Voraussicht nach noch längst nicht ausgestanden.

Durchatmen hieß es nach der Urteilsverkündung bei Annemarie Rentsch. Die Königswarthaer Gemeinderätin von den Parteifreien Wählern (PFW) hatte den Weg ins Bautzener Amtsgericht auf sich genommen, um die 85-Jährige umgehend über das Ergebnis informieren zu können. „Die betagte Dame geht selbst nicht ins Gericht“, erklärte sie. Die Botschaft, die sie übermitteln konnte, stellt aus Sicht der Beklagten und ihrer Unterstützer zumindest einen Teilerfolg dar. Denn das vom Direktor des Amtsgerichtes, Markus Kadenbach, verkündete Urteil besagt, dass die 85-Jährige ihre Wohnung nicht kurzfristig räumen muss. Genau dies hatte die Bauträgergesellschaft mit ihrer Klage erreichen wollen – Bezug nehmend auf eine Kündigung, die im vergangenen Jahr von der Gemeinde Königswartha (die damals noch Eigentümerin des Geländes war) ausgesprochen wurde.

Diese Kündigung ist nach Auffassung des Gerichtes jedoch ungültig. Das gilt allerdings nicht für eine weitere, von der Atlas Bau GmbH selbst im laufenden Jahr ausgesprochene Kündigung: „Sie ist gültig und beendet das Mietverhältnis zum 31. Dezember dieses Jahres“, wie Markus Kadenbach erklärt. Auf gut Deutsch: Die 85-Jährige bekommt eine Galgenfrist bis zum Ende des Jahres.

Ob es dann allerdings tatsächlich zum Auszug – ob freiwillig oder erzwungen – kommt, steht noch in den Sternen. Von Seiten der Beklagten, so machte Annemarie Rentsch deutlich, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Es gab jedoch nicht nur eine Klage zu verhandeln: Die 85-jährige Mieterin hatte ihrerseits Rechtsschutz gegen weitere Abrissarbeiten vonseiten des Bauträgers begehrt. Durch diese war ihr Keller verschüttet und dadurch unbrauchbar gemacht worden. „Die alte Dame hatte darin Konserven eingelagert, die jetzt für sie verloren sind“, so Annemarie Rentsch. Doch auch die Lärm- und Staubbelästigung sei unerträglich gewesen. In diesem Punkt erhielt die Klägerin im vollen Umfang Recht: „Der Bauträger kann nicht einfach versuchen, mit ihm geeignet erscheinenden Maßnahmen die Räumung zu erzwingen. Das bleibt dem Gerichtsvollzieher vorbehalten“, machte Amtsgerichtsdirektor Markus Kadenbach unmissverständlich deutlich. Zumal sich die 85-Jährige nach wie vor rechtmäßig in der Wohnung befinde. Die Abrissarbeiten seien also unverzüglich einzustellen. Annemarie Rentsch erklärte indessen, dass wegen dieser Maßnahmen Strafanzeige gestellt wurde.

Über deren weitere Behandlung muss jetzt die Staatsanwaltschaft entscheiden.

Katrin Kunipatz/Uwe Menschner / 13.09.2016

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Kommentare zum Artikel "Ortstermin: Muss 85-Jährige aus ihrem Haus?"

Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

  1. Annemarie Rentsch schrieb am

    Wie mir die 85jährige Dame erzählte, hat sie, mit Hilfe ihrer Schwägerin und deren Ehemann, am 2.8.2016, als der Bagger schon am Haus stand und mit dem Abriss beginnen wollte, ohne dass darüber mit ihr zuvor gesprochen wurde, nur einige Konserven umgelagert. Bereits am nächsten Tag war der Zugang zum Keller mittels Bretterverschlag verbarrikadiert. Zu diesem Zeitpunkt nahm die alte Dame noch an, dass es sich bei dem Abbruchversuch um ein Missverständnis gehandelt habe. Leider war es nicht so. Alles weitere, was sich sonst noch im Keller befand (u.a. große Steinguttöpfe, Regal und Schrank mit Einkochutensilien etc.) wurden 3 Tage später, beim Totalabbruch des Gebäudes, unwiederbringlich zerstört. Im Grundgesetz Art. 1 (1) steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar.Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. ...

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