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Verlockungen und Frust im Pensionopolis Görlitz

Verlockungen und Frust im Pensionopolis Görlitz

Manfred Prediger bei einem Besuch im Schlesischen Museum zu Görlitz. Foto: Klaudia Kandzia

Görlitz. Manfred Prediger hat eine ungewöhnliche Lebensgeschichte und ist mit dieser dennoch eines von vielen Beispielen dafür, was bei der Umorientierung im Alter auf einmal wichtig ist.
Seit seiner Pensionierung lebt er im kleinen oberschlesischen Dorf Wengern (Wegry) bei Oppeln (Opole). Er zog von Sachsen-Anhalt, das nach seiner Vertreibung aus Gablonc (Jablonec nad Nisou) im Sudetenland seine zweite Heimat geworden war, in diesen Ort, 300 km hinter der deutschen Grenze, weil seine Ehefrau in der dortigen Dorfschule für die hier starke deutsche Volksgruppe muttersprachlichen Deutschunterricht gab. 2019 ist sie plötzlich verstorben. Prediger blieb ohne Polnischkenntnisse in dem Bungalow, den er mit seiner Frau dort errichtet hatte. In das Dorfleben ist er gut integriert, weil es ähnlich einem sorbischen Dorf in der Lausitz auch in Wengern ohne die Staatssprache gut funktioniert. Doch als alleinstehender Stadtmensch sehnt er sich nun nach den Verlockungen der Stadt.

„Wenn man mit über 70 noch einmal umzieht, dann möchte man natürlich alles richtig machen“, sagt er. Nach Bitterfeld-Wolfen zieht ihn nichts zurück, hingegen hat er sich nun Görlitz auserkoren. „Die Stadt war für meine Frau und mich immer erster Anlaufort, wenn wir in Deutschland einkaufen waren und zudem bleibe ich damit auch in Schlesien“, umschreibt er seinen Drang in die Neißestadt. „Das wichtigste im Leben sind doch Sozialkontakte und dass man eigene Interessen verfolgen kann. Ich habe viele Jahre in einer deutschsprachigen Redaktion in Oppeln als Korrekturleser gearbeitet. Nicht wegen des Geldes, sondern weil ich so unter junge Leute kam, auch mal mit Kollegen plaudern konnte und zugleich immer am Puls der Zeit geblieben bin“, sagt er. In Görlitz hat er nun Ausschau nach einem Seniorenheim gehalten, das ihm die Freiheit gibt auch selbst auszuschwärmen und ihm nebenbei quasi manche Sorge des Alltags vom Halse hält. „Für mich ist also besonders wichtig, dass ich fußläufig die Museen der Innenstadt erreiche, an Diskussionen teilnehmen oder Kurse der Volkshochschule besuchen kann“, sagt er. Auch die Nähe zum Bahnhof oder zumindest eine gute Bus- oder Straßenbahnanbindung sei ihm wichtig, um zu Wanderausflügen in die Oberlausitz oder das Riesengebirge auszuschwärmen. Während ihn die Region eigentlich nicht mehr überzeugen muss, hat ihn sein letzter Besuch in Görlitz dennoch auch frustriert. In der Innenstadt steuerte er eine neue Seniorenunterkunft an. Er wollte nur mal unverbindlich ein paar Blicke hineinwerfen und wurde mit der formalitätbesessenen Mentalität aus tiefster DDR-Zeit konfrontiert. „Die Chefin ist heute nicht da, da kann ich sie nicht hereinlassen“, würgte eine Mitarbeiterin ihn ohne Gespür dafür ab, wie man Interessenten in der Marktwirtschaft bei Laune hält.
Dabei ging es mir noch gar nicht um konkrete Fragen, sondern nur einen allgemeinen Eindruck, wie das Haus überhaupt wirkt“, so Prediger. Nach dem Schock über den Gegensatz zwischen kulturellem Anspruch und infrastruktureller Alltagsrealität wird er dennoch den weiten Weg von 300 km erneut auf sich nehmen und weitersuchen. Schon weil er auch bislang zu Arztbesuchen immer mal wieder nach Görlitz muss. Fehlende polnischen Sprachkenntnisse zwangen ihn dazu auch in der Vergangenheit.

Bei aller Ungewöhnlichkeit seiner Lebenssituation hat Manfred Prediger eines mit vielen Altersgenossen gemein. Er will sein eigenes Schicksal in der Hand behalten, solange seine Kräfte ihm wichtige Weichenstellungen selbst erlauben. „Es wäre natürlich schade, wenn Görlitz aufgrund fehlender geistiger Flexibilität von Mitarbeitern in Altenheimen scheitert, während ich die noch habe“, sagt er. „Wenn ich in Görlitz nicht fündig werden sollte, dann schaue ich mich mal in Bautzen oder Zittau um“, meint er mit Blick auf einen Lebensabend mit viel geistiger Abwechslung.

Till Scholtz-Knobloch / 19.11.2020

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