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Viele Anregungen zum Selbstdenken in Rothenburg

Viele Anregungen zum Selbstdenken in Rothenburg

Die feierliche Einweihung des Rothenburger Friedensengels wurde vom Rothenburger Männergesangsverein von 1845 und seinen Partnerchören musikalisch umrahmt. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Rothenburg hat am Dienstag nicht nur den neu geschaffenen Friedensengel wieder als zentrales Wahrzeichen der Stadt begrüßt, sondern an diesem 17. Juni zuvor auch dem Volksaufstand von 1953 gedacht. Musikalisch verlieh der jüngst 180 Jahre alt gewordene Rothenburger Männergesangsverein von 1845 dem historischen Tag Festglanz, indem er das traditionelle Marktsingen auf diesen Tag legte.

Rothenburg. Als sich auf dem Marktplatz von Rothenburg schon ein Teil der Einwohnerschaft erwartungsfroh zur Einweihung des Friedensengels versammelt hatte und die ersten Holzbänke in Beschlag nahm, hatten sich etwa drei Dutzend Menschen nur wenige Schritte entfernt auf dem vom Marktplatz einsehbaren Alfred-Wagenknecht-Platz zum Gedächtnis an den 17. Juni vor 72 Jahren versammelt. 

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Mark und Michaela Wagner beim Gedenken am Wagenknechtstein. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Hier begrüßte Rothenburgs neuer Pastor Johannes Swoboda – dessen Familienname tschechischer Herkunft zu Deutsch mit „Freiheit“ zu übersetzen ist. Und genau dafür stand eben auch Alfred Wagenknecht. Der 1909 in Lauban (Luban) geborene Rothenburger Fuhr- und Busunternehmer, zugleich Landwirt und Familienvater von fünf Kindern sicherte nach dem Krieg mit dem täglichen Milchtransport das Überleben in schwieriger Zeit.

Am 17. Juni 1953, dem Tag des Volksaufstands in der DDR, fährt Wagenknecht wie gewohnt mit der Milch nach Görlitz. Auf dem Rückweg nimmt er einen befreiten politischen Häftling mit. Zwei Tage später, am Abend des 19. Juni, wird er vor seinem Haus verhaftet – in Arbeitskleidung, das Fahrrad in der Hand. „Habt keine Angst, ich kläre das“, sagt er noch zu seinen Kindern. Es sind seine letzten Worte an sie.

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Rothenburger Marktplatz mit Siegessäule in den 30er-Jahren

Kurz darauf erhält seine Frau Herta die Nachricht vom Tod ihres Mannes in der Untersuchungshaft des VPKA Niesky. Man sagt ihr, er habe sich erhängt. Doch der Sarg ist verschlossen, eine Öffnung strikt untersagt. Herta missachtet das Verbot – ein Arzt stellt schwerste Verletzungen und Verbrennungen fest, aber keine Spuren einer Strangulation.

Freunde und Nachbarn sehen den Leichnam, ehe die Behörden eingreifen und eine sofortige Beisetzung anordnen. Der Pfarrer, der die Kirchenglocken läuten lässt, wird verhaftet. Herta wird zum Schweigen verpflichtet. Trotzdem spricht sich herum, was wirklich geschehen ist. Interne Berichte der SED belegen: In Rothenburg glaubt kaum jemand an einen Selbstmord. Alfred Wagenknecht, der Milchfahrer, ist in Haft zu Tode gekommen – weil er zur falschen Zeit einem politischen Gefangenen half.

Am Gedenkstein, der an ihn erinnert, betont am Dienstag Bundestagsabgeordneter Florian Ost: „Der Staat darf Menschen niemals einengen, muss ihnen vertrauen“, Rothenburgs ehemaliger Bürgermeister und Ex-Landrat Bernd Lange betont, dass ein jeder Schüler in zehn Jahren wenigstens einmal an diesen Gedenkort kommen müsste – die Geschichte schreibe sich gerade hier in die Erinnerung. Dass der Gedenkort zunächst auch mit Zweifeln eingerichtet worden war, daran erinnert Rothenburgs junger Bürgermeister Philipp Eichler, aber getroffene Hunde würden eben bellen. Er verneige sich vor Alfred Wagenknecht – „einem Freund meines Opas“.

Selbst Sänger im Männergesangsverein von 1845 muss er zunächst jedoch für einen kurzen Gang zum Marktplatz unterbrechen, denn die Chorprobe ohne ihn übertönt zunächst etwas das Gedenken. Seine Rede als solches könne aber als erster Teil zur Geschichte verstanden werden, „die Fortsetzung gibt es dann nachher vor dem Friedensengel“.
Zu denen, die am Wagenknecht-Gedenkstein Blumen ablegen, gehören auch Wagenknecht-Enkel Mark Wagner mit seiner Frau Michaela. Seit 2006 lebe er in Kodersdorf, sagt Mark Wagner, „aber in Rothenburg schlägt weiter die zweite Herzhälfte.“ Für ihn sei der Tag auch deshalb wichtig, weil er selbst gerade den Generationensprung spüre. Diesen Mai sei seine Tante als letztes Kind von Alfred Wagenknecht verstorben. Er, Jahrgang 1973, sei von 1980 bis 1990 Schüler gewesen. „Meine Eltern hatten damals mir gegenüber Furcht die Wahrheit zu erzählen. Mir wurde immer gesagt, mein Großvater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Mit der Wende wurde mir dann die Wahrheit gesagt und dann kamen einige Sachen ins Rollen. BKA und LKA haben uns besucht und den Fall aufgerollt – eine sehr interessante Zeit.“ Revanchegelüste gegenüber am Geschehen von 1953 Beteiligten hege er aber nicht.

Bürgermeister Eichler – noch deutlich nach Mark Wagner geboren – berichtet gegenüber der Redaktion: „Ich habe mich in meiner Abiturzeit im Geschichte-Leistungskurs intensiv damit befasst – die Note war nicht schlecht“, schmunzelt er und erklärt: „Mit beiden Akzenten – dem Gedenken an den 17. Juni und der Einweihung des Friedensengels – wird heute betont, wie wichtig Frieden und Einheit in Europa ist. Das ist mir am wichtigsten und vor allem, dass man diplomatische Beziehungen einsetzt!“ 

Das klingt aus Politkermunde 2025 schon fast mutig. Für den Sinnspruch am Denkmalsockel wollte er von Anfang an ein Zitat aus der Aufklärung. Immanuel Kant habe ja auch gesagt: ’Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.’ Ebenso sicher keine Selbstverständlichkeit unserer Zeit – letztlich habe sich der Stadtrat jedoch für ein kurzes Kant-Zitat entschieden, in dem der Frieden explizit genannt ist.

Zugleich steht Kant nicht allein für Aufklärung, sondern auch für Heimat. Bekannt ist, dass der Königsberger Philosoph seine Heimatstadt am Pregel selten und Ostpreußen trotz seiner Prominenz nie verlassen hat. Als Leitspruch am Fuße des Sockels heißt es nun nach ihm: „Der Frieden ist das Meisterwerk der Vernunft“. Damit präsentiert sich das Denkmal bewusst nicht als Kriegerdenkmal alten Verständnisses. Auf weiteren Tafeln sind Spender genannt. Der Friedensengel mit Lorbeerkranz wird nun als Zeichen gegen Krieg und für Zusammenhalt definiert. Angefertigt wurde die vergoldete Figur von Handwerkern aus der Region – allein anhand historischer Fotografien.

Der goldene Friedensengel war bereits im April eingeschwebt und hatte seinen Platz auf einer Säule gefunden. Finanziert wurde das Projekt ausschließlich durch Spenden, darunter auch Gelder aus Polen, Frankreich und der Schweiz. Während bei Polen die Nachbarschaft hineinspielt, liegt auch Frankreich nahe, denn das Denkmal hat eine historische Vorgeschichte: An gleicher Stelle stand einst ein Monument für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 um die erste deutschen Einheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg passte das Denkmal nicht mehr in die Zeit und wurde abgetragen. 
Über 40 Prozent des benötigten Betrages steuerte jedoch allein ein anonymer Spender mit 28.000 Euro bei, der im Rathaus eine handschriftliche Notiz hinterlassen hatte, dass ihm das Projekt am Herzen liege. 

Mit der Wende war auch die Erinnerung an das unter preußischen Zepter geführte Deutschland nicht mehr tabu. Der Wunsch, an die Optik des Marktplatzes in alter Form wieder anzuknüpfen kam in den 90er-Jahren auf, wurde aber erst 2022 mit konkreten Planungen neu belebt.

Zunächst war die feierliche Einweihung im Mai geplant – gemeinsam mit dem Jubiläum des Rothenburger Männergesangsvereins. Der fand mit dem Marktsingen am 17. Juni aber einen ebenso passenden Termin. Alles ergänzt durch die dritte Aussagekraft des 17. Juni.

Während anderenorts Denkmäler oft Fragen aufwerfen, was überhaupt dargestellt wird, hat sich Rothenburg also für eine zeitgemäß definierte Annäherung an das historische Vorbild entschieden. Im Beisein der Partnerchöre aus Bad Muskau und Daubitz erklingt passend auf dem Marktplatz als erstes Lied: „Oh blühe fort du deutscher Männersang“. Und nach Eichendorff ist auch in Sangesform zu hören: „Der Rothenburger Männerchor wird niemals untergehen“. Dennoch bleiben auch die Rothenburger Sänger auf der Höhe der Zeit. Weil die Puhdys 1972 im Preußischen Hof auftraten, erhalten die beiden ältesten Sänger im Chor zwei aufgeblasene Gitarrenattrappen und alle zusammen schmettern nun: „Es ist keine Ente, wir singen bis zur Rente.

Till Scholtz-Knobloch / 21.06.2025

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