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Eine Handgranate im Tanzsaal und viel Neues

Eine Handgranate im Tanzsaal und viel Neues

Udo Grunert (rechts) hat in Julian Antonowicz einen Menschen gefunden, der sich wie er mit der Geschichte von Hermsdorf (Jerzmanki) auseinandersetzt. Foto: Till Scholtz-Knobloch

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Udo Grunert inmitten eines weiten und leeren Innenhofs. Anhand alter Abbildungen zeichnet er die Ausmaße des alten Gutshofes von Hermsdorf nach. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Görlitz hat sich wie einst im Kaiserreich längst wieder zu einem beliebten Altersruhesitz gemausert. Einen wesentlichen Anteil daran hat die Lage an der Grenze. Von hier aus ist es für viele Rentner so nah in die einstigen Heimatdörfer oder die ihrer Familien. Einer von denen, der sich als Rentner an der eigenen Herkunft abarbeitet, ist Udo Grunert. Der Ort seiner Begierde liegt ganze drei Kilometer hinter der Stadtgrenze.

Görlitz/Hermsdorf (Jerzmanki). Schon der Gang über die Neiße in der eigenen Stadt wird von vielen Deutschen als ein Eintauchen in eine andere Welt empfunden, in der man sich sprachlich und auch mental schwer zurechtfindet. Vielfach wird dieser so auch nur zum Einkauf von Zigaretten und Lebensmitteln oder zum Tanken genutzt. Mit etwas weniger Scheuklappen landen andere auch zum ergebnisoffenerem Shoppen z.B. in der Zgorzelec Plaza. Kurz dahinter ist Görltiz auch schon zu Ende.

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1958 war das alte Gutshaus noch intakt und diente den Kindern des Ortes als Schule. Vorne in der Mitte kniet mit Mütze der damals elfjährige Julian Antonowicz. Foto: privat

Lässt man das Ortsschild Zgorzelec hinter sich, ist das nächste echte Dorf, wenn man von der Woiwodschaftsstraße 352 links abzweigt, Hermsdorf – polnisch Jerzmanki. Der Sprung hierher ist noch einmal ähnlich groß wie der nur über die Staatsgrenze.
Udo Grunert hat zu diesem Katzensprung schon manches Mal angesetzt. Er ist zwar in Görlitz geboren, doch sein Stammbaum hat ihn seit seiner Rückkehr in die Heimat schnell in das Dorf geführt, aus dem seine Mutter stammte.

Grunert vereint quasi zwei Dinge in sich, die für viele Ältere in der Stadt typisch sind. Im Gegensatz zu den Schlesiern aus dem Landesinneren hat die Familie 1945 quasi nur über die Oder gesetzt und die Heimat östlich der Neiße durch ihre Unzugänglichkeit nur partiell verloren – denn das Westufer war ja vor der Vertreibung ebenso im eigenen Aktionsradius... so wie der Berliner auch nicht fragt, ob er gerade dies- oder jenseits der Spree unterwegs ist. Zugleich ist Udo Grunert jedoch auch Vertreter der Generation, die dank ihres Heimwehs im Ruhestand wieder zurückgefunden haben und die Stadt mit den niedrigen Lebenshaltungskosten zu einer Hochburg für Pensionäre gemacht haben.

1965 war ihm als DDR-Grenzsoldat die Flucht in den Westen gelungen. Nach der Wiedervereinigung bot sich zunächst noch keine Gelegenheit die Arbeit im rheinhessischen Worms einfach hinzuschmeißen, doch als Rentner erfüllte er sich letztlich den Rückkehrtraum.

Mit Dolmetscherunterstützung des Niederschlesischen Kuriers sitzt er nun wieder am Steuer und fiebert der Aufklärung mancher Fragen in Hermsdorf entgegen. Das Dorf hat noch gar nicht begonnen, da tritt er in die Bremse. Hinter einem feudalen Torbogen wohnt eine etwa 50-jährige Frau mit ihren beiden Söhnen. Sie bewohnt das Forsthaus der alten Gutswirtschaft. Hier bestätigen sich bereits einst vage, mit gebrochenen Worten vermittelte Kenntnisse, z.B. wann die Laube verschwunden ist, durch die einst die Herren Kurys-Römer von der Kutsche trockenen Fusses ins Forsthaus gelangten.

Udo Grunert notiert mit, denn nach und nach baut er seine mittlerweile etwa 50-seitige Ortschronik aus. Wer sonst, als ein Nachkomme von Dorfbewohnern, könnte über die Quellen in den Archiven hinaus der Nachwelt ein Bild aus einer untergegangenen Welt vermitteln? „In der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaft wissen die Mitarbeiter, dass ich forsche und unterstützen mich“, betont er und zeigt sich zufrieden, dass seine Arbeit nicht nur seine Wissbegierde befriedigt, sondern künftig auch einen Wert für die Nachwelt darstellen wird. Nach dem weltweit im Grunde einzigartigen Komplettaustausch der Bevölkerung 1945 in so großem Stil müssen hier auf beiden Seiten riesige Rekonstruktionslücken geschlossen werden.

Im Ortskern ist die Arbeit daran etwas unkomplizierter. Am Gartenzaun begrüßt Grunert ganz zufällig eine fast schon alte Bekannte. Die Dame hatte lange in Deutschland gearbeitet und konnte Grunert schon manches Wissen um Dinge auf Deutsch vermitteln, die sich im Ort seit den 50er Jahren zutrugen. Von ihr will er heute wissen, ob im Kirchturm heute noch die historischen Glocken läuten und wohin ein altes Epitaph an der Kirche verschwunden sei. Der Ortspfarrer hatte ihm beim letzten Besuch ja deutlich die kalte Schulter gezeigt. In beiden Fällen kann sie jedoch nicht weiterhelfen, allerdings ist ihr da noch ein älterer Herr eingefallen, der sich im Ort für dessen Geschichte interessiere.

Nach zwei kurzen Plauschen an anderer Stelle sitzen wir also am Ortsende an einem allein stehenden heimeligen Backsteinhaus am Gartentisch von Julian Antonwicz. Grunert und Antonowicz finden als Seelenverwandte mit ähnlichen Fragen gleich zueinander und blättern gemeinsam in Grunerts Aufzeichnungen. „Ich bin im alten Gutshaus noch zur Schule gegangen“, sagt Antonowicz auf Polnisch und eilt flux hinauf in den ersten Stock, um ein Foto zu holen. Auf diesem sieht man ihn mit etwa 70 anderen Kindern des Ortes 1958 am Hauptportal des Gutshauses – ihrer damaligen Schule. Grunert ist begeistert, denn dies ist die erste Abbildung, auf die er nun für seine Chronik gestoßen ist, die das noch intakte Gutshaus nach dem Krieg zeigt. Während die Stallungen und die Brennerei neben dem Gutshaus noch länger in Betrieb blieben, wurde in den 70er Jahren das mittlerweile weitgehend verwahrloste Gutshaus einfach abgetragen und ist damit auch in polnischer Überlieferung nur noch ein Teil der Erinnerung der polnischen Pioniere im Ort. Und Antonowicz hat noch eine andere heiße Spur. Nach dem Krieg hätten doch drei deutsche Frauen noch einen gerade zugezogenen polnischen Mann geheiratet. „Frau Rübsamen – so ihr Geburtsname – hat doch drei Töchter, ich glaube die leben noch im Ort oder in der Nähe“, sagt er. Sein Vater sei übrigens als Rückkehrer von der Zwangsarbeit hiergeblieben, weil ihn die Teiche im Ort an die in seiner Heimat in Podlesien erinnerten, das mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 an die weißrussische Sowjetrepublik fiel.

Von einer der Töcher habe er in jedem Fall gehört, dass der letzte deutsche Bürgermeister, Ey, erschossen wurde, als er sich weigerte sein Dorf zu verlassen. Grunert kennt diese Geschichte zwar bereits, aber er meint: „Das ist doch wieder eine tolle Spur. Wenn diese Geschichte weitererzählt wurde, dann werden die bestimmt auch andere Geschichten erzählen können, die ich noch nicht kenne, die aber für die Ortschronik interessant sein dürften.“ Denn erst persönliche Geschichten machen auch eine Ortschronik anschaulich. So sei am einstigen Gasthaus der angebaute Tanzsaal letztlich dadurch verschwunden, dass russische Soldaten hier im Überschwang auf dem Parkett eine Handgranate zur Explosion brachten. Das riesige Loch wurde nicht ausgebessert und der Tanzsaal verfiel ohne Nutzung dann ebenso.

Eine fünfstündige kleine Forschungsfahrt geht zu Ende. Sie wird am Ende wohl nur einen kleinen Teil der Ortschronik ausmachen, doch für solche Erlebnisse ist Udo Grunert zurück in seine und die Heimat seiner Ahnen gekommen.
Wer noch etwas über zur Geschichte von Hermsdorf beizusteuern vermag, der kann sich unter der Telefonnummer 03581/8546643 bei Udo Grunert melden. Auch wenn es am Ende nur wieder um einen kleinen Absatz in einem Werk geht, das außer ihm wohl keiner anderer je schreiben wird.

Till Scholtz-Knobloch / 21.09.2019

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