Direkt zum Inhalt springen
Info & Kommentare

In Baku fragt man sich: „Was ist ein Burnout?“

In Baku fragt man sich: „Was ist ein Burnout?“

Der Prodekan der Fakultät Sozialwissenschaften der Hochschule in Görlitz, Professor Dr. Matthias Schmidt, kommt von einem Lehrauftrag in Aserbaidschan zurück. In Folge des dortigen Aufenthaltes werden am 19. und 20. März Maschinenbauingenieure der Ölindustrie aus der einstigen Sowjetrepublik an der Neiße zu Gast sein.

Görlitz. Matthias Schmidt ist ein echtes Kind der Oberlausitz: In Löbau geboren, in Rothenburg aufgewachsen, freut er sich, dass er nach entbehrungsreichen Jahren der wissenschaftlichen Ausbildung nun im sicheren öffentlichen Auftrag seiner Neugier weltweit nachgehen darf. Gerade kommt er zurück von einer einsemestrigen Entsendung in das muslimische Aserbaidschan, das sich an Kaukasus und Kaspisches Meer schmiegt.

Der Nachbar vom Iran, Russland, Georgien, Armenien und der Türkei ist ohne Moskauer Knute zu einem reichen Boomland der Ölförderung im Nahen Osten geworden. Für den Eurovision Song Contest 2012 wurde flux eine ultramoderne 25.000 Zuschauer fassende Halle errichtet, die Petrodollar locken seit 2016 auch den Formel-1-Zirkus an.
Schmidt ist Arbeits- und Organisationspsychologe und trotz mancher Forschungsgebiete, die sich für Außenstehende wie eine Gebrauchsanweisung für unbekannte Maschinen lesen, das Gegenteil eines Fachidioten. Blitzschnell verbindet er im bereits verschollen geglaubten humboldtschen Geiste völlig unterschiedliche Wissenschaftsfelder. Und da er als Kommunikationsexperte auf Schnickschnack verzichtet, tut er dies auch in leicht verständlichem Alltagsdeutsch.

Das ganze zudem gewürzt mit einer gehörigen Portion Humor. So sagt er ebenso beiläufig wie lakonisch: „Ich hatte einmal die jungen Leute als Studierende angesprochen und dann einen Schreck bekommen. Ich will ja schließlich niemanden ausschließen“, schmunzelt er mit Blick auf jene Studenten, die besseres als Studieren im Sinn haben.

Schmidt ist in seinem Element: Ausdruck, Mitteilungswille und mögliche Empfangsverfälschung der Botschaft hat er stets im Blick. Der umfassende wissenschaftliche Kontakt über kulturelle Grenzen hinweg ist meist Verstärker.

Doch selbst Schmidt stößt an Grenzen. Etwa wenn er in Südamerika oder auch Baku zu einem seiner Forschungsfelder „Arbeit und Gesundheit“ gefragt wird, was ein Burnout denn genau sei. Denn wenn man nicht mehr arbeiten könne, hört man doch auf und macht später weiter, sage man dort in Unkenntnis des protestantisch-calvinistischen Arbeitsethos’, der das nördliche Europa und die USA bestimmt.
Dabei hat Aserbaidschan aufgrund seiner Geschichte eine unglaubliche Bandbreite an Lebensphilosophien aufgesogen. Der ursprüngliche Zoroastrismus mit dem Feuerkult des Religionsstifters Zarathustra ist nicht völlig vom Islam überlagert, die junge Bevölkerung verbinde uralte Traditionen mit der Moderne. Immerhin hatte Aserbaidschan nach dem 1. Weltkrieg vor Anschluss an die UdSSR als eines der ersten Länder der Welt das Frauenwahlrecht eingeführt. Die sozialistische Vergangenheit habe dazu geführt, dass das Land bis in jeden Winkel früh alphabetisiert gewesen sei und Frauen schon über Generation arbeiten. „Die Nichtverschleierung ist selbstverständlich“, bemerkt Matthias Schmidt. Entstanden sei aus alldem eine unglaubliche Toleranz und der Spaß Zukunft jetzt zu gestalten, ohne dabei auf die Familie zu verzichten. „Die Familien sind groß, ich habe niemanden kennengelernt, der sich einsam fühlen muss und frage mich gerade, ob es so etwas wie Einsamkeit dort überhaupt gibt“.

Viele Erfahrungen nimmt Matthias Schmidt nun in seinen reichen Fundus des Kommunikations-Know-Hows auf, denn vor Dienstaufnahme in Aserbaidschan musste er erst einmal googeln. „Für mich war Aserbaidschan ein Land mit sieben Siegeln. Ich bin beim Forschen wahnsinnig neugierig geworden und in diesem islamischen Land auf einen traditionsreichen Weinbau gestoßen oder darauf, dass Baku 1902 einen deutschen Bürgermeister hatte. Ich war viel im Westen tätig und habe nach dem Aufwachsen in der DDR Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion aus dem Auge verloren“, stellt er fest und räumt eine gewisse Überdrüssigkeit aufgrund staatlich verordneter Verbrüderung einst ein.

Doch es wäre sträflich, eine solche Boomregion aus dem Auge zu verlieren. Für den Freistaat Sachsen ist die Ausschreibung der Entsendung ans Kaspische Meer insofern naheliegend gewesen – Internationalisierung ist in der globalisierten Welt eine notwendige Strategie der eigenen Imagepflege. Das ganze soll in eine feste Form gegossen werden in Form eines Kooperationsvertrags zwischen Baku und Zittau/Görlitz.

Am 19. und 20. März sind aserbaidschanische Maschinenbauingenieursstudenten der Ölindustrie und ihre Lehrbeauftragten, die mit der Universität Siegen bereits eine lange Zusammenarbeit pflegen, in Görlitz zu Gast. Neben persönlichen Freundschaften haben sich aber schon jetzt konkrete Aufträge herauskristallisiert. British Petroleum (BP) hat Matthias Schmidt bereits für die Ölindustrie in Aserbaidschan um wissenschaftliche Beratung ersucht, ebenso das dortige Formel-1-Büro hinsichtlich der Erarbeitung der Arbeitsorganisation. Doch auch „im Westen“ ist Matthias Schmidt als Experte für „Industrie 4.0 und Coaching“ ganz vorne dabei. Bei einer Tagung in der Schweiz wurde er vor Kollegen der US-Eliteuniversitäten Harvard und Yale genannt. Auch der Freistaat Sachsen baut auf ihn, etwa bei der Evaluierung der Arbeitssituation von Lehrern. „Da arbeitet man wirklich an etwas, dass angesichts der politischen Bedeutung derzeit auch nicht in Schubladen lagert, sondern gleich von vielen Beteiligten gelesen wird“, sagt er. Letztlich sei für jeden Menschen – dies bestätigten alle Untersuchungen – mangelnde Wertschätzung oder auch fehlende Erholungsphasen für Unzufriedenheit am Arbeitsplatz ausschlaggebend. Die besten Ideen entstünden im Bett, im Badezimmer oder auf dem Fahrrad. Langsam verstünden Arbeitgeber aber den Zusammenhang, dass Pausen und Müßiggang die kreativsten Phasen menschlicher Inspiration bewirken.

Till Scholtz-Knobloch / 19.03.2018

Was sagen Sie zu dem Thema?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung

Die Mail-Adresse wird nur für Rückfragen verwendet und spätestens nach 14 Tagen gelöscht.

Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein, dass der angegebene Name, Ihre Email-Adresse und die IP-Adresse, die Ihrem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, von uns im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar gespeichert werden. Die Email-Adresse und die IP-Adresse werden natürlich nicht veröffentlicht oder weiter gegeben. Weitere Informationen zum Datenschutz bei alles-lausitz.de finden Sie hier. Bitte lesen Sie unsere Netiquette.

Weitere aktuelle Artikel