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Die Bahn in Görlitz wird heute aus Leipzig gesteuert

Die Bahn in Görlitz wird heute aus Leipzig gesteuert

Wilfried Rettig, Autor dieses Textesund zahlreicher Fachbücher zur Eisenbahn in der Oberlausitz, war Ingenieur im EMK Schlauroth, später im Forschungszentrum der DB in Minden (Westfalen).

Görlitz. Bereits am Anfang des Eisenbahnzeitalters, als Richard Trevithick 1802 in Wales eine 15 km lange Industriebahn eröffnete, wurden Weichen benötigt, um auf ein Nebengleis zu gelangen. Signale, damals Semaphore genannt, übermittelten optische Nachrichten und gaben die Einfahrt in einen Bahnhof frei. Alle Weichen und Signale wurden am Ort manuell durch Bedienstete gestellt.

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Das letzte Schlaurother Stellwerk W2 (ex Snt) kurz vor seinem Abriss im Mai 2021 Foto: Wilfried Rettig

Auch auf dem Bahnhof Görlitz gab es bis zum zweiten Bahnhofsumbau 1914-1917 noch 20 Weichenstellerbuden, verteilt über das gesamte Terrain. Fahrstraßen für den Zugverkehr wurden durch Weichensteller gebildet, unterstützt durch Hilfsweichensteller. Letztere gehörten als Gehilfen im Gegensatz zu den Beamten zu den kündbaren Bahnhofsarbeitern.

1914 zog neue Technik ein und erhob Görlitz zu den modernsten Bahnhöfen in Deutschland. Elektrische Weichen und Signalantriebe mit mechanischer Fahrstraßenverriegelung (Bauart Siemens & Halske, 1913) wurden fortan fernbedient. Auf dem Stellwerk „Gt“ saß der Fahrdienstleiter, während die Stellwerke „Gnt“, „Got“ und „Gwt“ Wärterstellwerke waren. Die Bezeichnungen resultierten aus G für Görlitz, t für Turm (Bauweise des Stellwerks), und der Zwischenbuchstabe gab die Himmelsrichtung an. Die Gleisanlagen bestanden über Jahrzehnte aus 87 Gleisen mit 231 (!) Weichen. 1960 kam es zur Umbenennung der Stellwerke, z.B. des Befehlsstellwerkes Gt in B5 und des Wärterstellwerkes in W2.

Der Rangierbahnhof Schlauroth wurde bereits zur Eröffnung 1909 mit Stellwerken für die Fernbedienung von Weichen und Signalen ausgerüstet. Die mechanische Hebeltechnik stammte von Müller & May, Görlitz-Rauschwalde. Im Osten und Westen standen die Befehlsstellwerke Sot und Swt, aus denen 1960 B1 und B6 wurden. Im großen Wärterstellwerk Snt (W2) saß der Bahnhofsdispatcher. Aus dem Nordwest-Turm (Snwt) wurde das Wärterstellwerk W5. In den früheren Mittelturm (Smt) zog in den 50er-Jahren der wagentechnische Dienst ein. Den nach dem Krieg stillgelegten Südturm (Sst) an der Dresdner Strecke übernahm das Raw. Lediglich das Stellwerk an der Berliner Strecke für die Einfahrt zum Rangierbahnhof hieß bis zuletzt Svt (Schlauroth Vorturm).

Als der Präsident der Deutschen Bundesbahn Heinz Dürr 1991 auch für die Deutsche Reichsbahn zuständig wurde, begannen die Einsparungen bei Anlagen und Personalen. Im Januar 1994 wurde der letzte Güterwagen über den Ablaufberg des Rangierbahnhofs Schlauroth abgefertigt. Als auch das Raw Görlitz 1998 seine Pforten schloss, wurden die Gleise demontiert. Nach und nach verschwanden die Schlaurother Stellwerke, als Letztes W2 im Juni 2021.

Auf dem Bf Görlitz setzte der Um- und Abbau Mitte der 90er-Jahre ein. Lichtsignale ersetzten die Formhauptsignale, die mit ihren Flügeln noch etwas Eisenbahnnostalgie vermittelten. Am 1993 geschlossenen Güterboden begann die Schienendemontage und setzte sich im Juni 2000 mit den Gleisen auf der Nordseite (Bahnsteig 3/4) fort, um die Jacobstraßenunterführung zu verkürzen. Seit am 25. Juni 2000 das Elektronische Stellwerk (ESTW) Görlitz in Betrieb ging, sitzt der örtlich zuständige Fahrdienstleiter für die übrig gebliebenen 30 Weichen und Signale in der Betriebszentrale Leipzig! Damit waren die Stellwerke funktionslos und wurden bis auf B5 im ersten Halbjahr 2004 abgerissen. Das Schicksal des wegen seiner Bauform genannten Reiterstellwerks B5 ist ungewiss.

Wilfried Rettig / 03.10.2022

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