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„Die Zahl beleidigter Leberwürste steigt“

„Die Zahl beleidigter Leberwürste steigt“

Jörg Heidig hat mit dem Buchtitel „Kultur der Hinterfragung“ einen interessanten Beitrag in die gesellschaftliche Debatte geworfen – hier in der Schaufensterauslage der Görlitzer Comeniusbuchung. Foto: Paul Glaser

Warum funktionieren Debatten eigentlich immer seltener? Warum agieren wir immer häufiger juristisch abgesichert, benutzen Worthülsen, moralisieren und haben dabei oft dennoch weniger Empathie? Der gesellschaftlichen Krise geht der Görlitzer Psychologe Jörg Heidig zusammen mit Dr. Benjamin Zips, Amtsleiter in der Zittauer Stadtverwaltung, in einer neuen Publikation mit überraschenden Schlussfolgerungen abseits des bekannten Links-Rechts-Schemas nach.

Region. „So vor 10 bis 15 Jahren ist mir als Psychologe erstmals in Kindergärten aufgefallen, dass es eine scheinbar prophylaktische Zurückhaltung in der Erziehung gibt“, sagt der Görlitzer Jörg Heidig. Die Gesellschaft habe wohl – auch unterstützt vom technischen Wandel – in einem rasenden Tempo ganz neue Formen entwickelt, wie Menschen miteinander in Kontakt treten und vor allem Interessen aushandeln.

Für Jörg Heidig spannt sich der Rahmen seiner Beobachtungen jedoch viel weiter. Er wurde christlich erzogen, entwickelte eine pazifistische Haltung und interessierte sich bereits in jungen Jahren für die Frage, wie eigentlich Frieden und Zusammenleben überhaupt funktioniert. Er absolvierte seinen Zivildienst in einem Ausländerwohnheim und hatte in der Frühzeit des wiedervereinten Deutschlands vor allem mit Flüchtlingen aus Afghanistan, damals vor allem Gefolgsleuten des sozialistischen Staatschefs Nadschibullah sowie infolge des Zerfalls Jugoslawiens mit solchen aus Bosnien und der Herzegowina zu tun. „Mir hat sich die Frage gestellt, wieso humanitäre Hilfe nicht funktioniert und habe mich als Freiwilliger nach Bosnien aufgemacht“, sagt er.

Er lernte Serbokroatisch, machte die Erfahrung, dass man mit einer bosnischen Aussprache in Kroatien an der Tankstelle nicht bedient wird oder dass die Mehrheit der Bevölkerung in den Städten dennoch längst jugoslawisch geprägt war und familiär gemischt nicht wirklich sagen konnte, ob man nun selbst kroatisch, serbisch oder bosnisch sei. „Mit diesen Erfahrungen stört mich heute zum Beispiel auch die romantische Hoffnung der Willkommenskultur in Deutschland“.

Heidig ist heute unter dem Label „Prozesspsychologen“ Berater für Firmen, Behörden oder Verbände mit Sitz am Görlitzer Untermarkt. Der Bedarf steige ständig, denn ob nun die Flüchtlingsfrage oder Kindergärten – überall gelten alte Gewissheiten nicht mehr.
Das hat Heidig auch angetrieben, zusammen mit Dr. Benjamin Zips, Amtsleiter in der Zittauer Stadtverwaltung, eine Streitschrift unter dem Titel „Die Kultur der Hinterfragung oder die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen“ herauszugeben, die eine Reihe weiterer Publikationen aus Görlitz nach sich ziehen soll. „Meine Stärke ist es, Dinge sehr dicht ausdrücken zu können.
Auch weil niemand mehr so richtig Zeit hat, haben wir unsere Beobachtungen und Thesen bewusst auf nur 66 Seiten in einem kleinen Format zusammengefasst“, sagt Heidig.

Und darin findet sich im Grunde jeder wieder: Verunsicherte Pädagogen, die erstmals mit Teilen einer Generation ohne Empathie, die kaum noch oder gar nicht mehr erzogen ist, zu tun haben oder Kleinunternehmer, die bei Lieferung „für ein einziges Plastikteil einen dreihundertseitigen Vertrag in englischer Sprache vorgelegt“ bekommen, weil die Hinterfragung von allem immer weitere Blüten treibt und „Kommunikation im Absicherungsmodus“ die Welt erfasst habe. Mit all ihren verheerenden Wirkungen. Welche Orientierung liefern noch Hochschulabschlüsse, wenn Prüfungen „klagesicher“ über Ankreuzfragen funktionieren und damit sogar bei Akademikern eine „Abkehr von sinnerschließenden, begründeten Antworten“ eintrete und es die Note 1,0 hagele? Oder wenn in einem Betrieb eine Leistungszulage als Gewohnheitsrecht verstanden werde, weil einfach jeder die Zahlung erhalte, da auch die Chefs intern im Absicherungsmodus agieren?

An dieser Stelle haben Heidig und Zips die heute seltener werdende Gabe, Selbstverständlichkeiten als solche anzumahnen. Heidig hat dabei auch die „Bemühungen zur Veränderung der Sprache“ als ursächlich ausgemacht, wenn etwa im Absicherungsmodus das Wort Behinderte vermieden werde oder aus Flüchtlingen „Geflüchtete“ werden. Er fragt dazu, ob sich die „Intoleranz ein neues – sozial erwünschtes Thema gesucht“ habe.

Schon einleitend warnt er den Leser, dieser werde „keine erwartbare politische Orientierung“ in der Streitschrift finden, die linke Leser enttäusche, da sie linke Diskurse bzw. deren Modus Operandi kritisiere, während Konservative sich am „linken“ Dialoganspruch als solchem stören könnten. Heidig betont: „Wir müssen einfach damit leben, wenn die Kritik kommt, hier machten sich zwei weiße Männer aus der Mittelschicht Luft“. Und das trifft den Nagel eigentlich auf den Kopf, gehört eine solche Formulierung doch zum Kanon beliebter Totschlagargumente.

Über die Jahre habe sich eine Haltung eingeschlichen, vieles einfach in ausufernder Toleranz hinzunehmen, ganz egal ob nun das Treiben im NPD-Parteivorstand, der Roten Flora, unter Reichsbürgern, Dschihadisten oder G20-Teilnehmern, die sogar von einem „Legal Team“ aus Rechtsanwälten im ebenso abgesicherten Modus juristisch unterstützt würden. Dabei vereine Radikale aller Couleur der Unwille zur Kommunikation. Und gerade dieser würde weiter genährt, da sich Menschen zunehmend in ihren Filterblasen austauschen, sich bestätigen und gewissermaßen Scheindebatten führen. „Umso schneller ist heute das Ego verletzt. Andere sind schuld, wenn das ‚Projekt’ eigenes Kind nicht richtig läuft. Mehr Ego heißt immer mehr Hinterfragung, immer mehr Wunsch nach Komfortzonen“, analysiert Jörg Heidig und weist darauf hin, dass all dies auch immer mehr Einsamkeit mit sich bringe oder den Umstand, dass man sich auf kollektiv gültige Konventionen nicht mehr verlassen könne. Beim Wort Glaube müsse man nicht zwangsläufig an religiösen Glauben denken, doch Glaube als solcher sei ja erst einmal ein „methodischer Optimismus“. Und der fehle zunehmend in der Orientierungslosigkeit der Maximierung des individuellen Anspruchs und des Ichs als moralischer Maßstab.

Doch „die ‚Freiheit von’ Autoritäten, Zwängen oder Kadavergehorsam stellt keinen Nullpunkt der Geschichte dar und bedeutet niemals absolute Freiheit.“ Diese müsse immer im Sinne von Freiheit zu’ verstanden werden – also die Selbstbindung an Werte, Normen und Ideale. „Gelingt dieser Brückenschlag nicht, werden Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Kulturen zerrieben“, warnt Heidig. Exemplarisch nehme das Gefühl der Sinnlosigkeit der Arbeit zu, Kommunikation werde immer häufiger als sinnloses strategisches Abtasten verstanden – die Zahl der beleidigten Leberwürste steige. Ohnehin sei es eine „wenig aufgeklärte Idee, dass wir ohne Vorurteile denken könnten.“

Doch neben der Orientierung auf die „Freiheit zu“, statt dem Beharren auf einer „Freiheit von“ müsse es am Ende im Notfall auch ein echtes „Feindbild“ geben dürfen, wenn sich Gruppen einer Debatte grundsätzlich entziehen. So scheut sich Heidig auch nicht zu sagen, dass dazu zum Beispiel Menschen gehören, die in den Islamischen Staat ausgewandert sind. „Nein, sie reisen nicht dorthin, sondern sie wandern aus, und als Auswanderer sollte man sie auch behandeln“.
 

Till Scholtz-Knobloch / 08.06.2019

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