Ein Leben wie die Made im Speck

Herbsthimbeeren gibt es in der Oberlausitz bis in den Oktober hinein. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Klaus Hemmerling aus Niesky hat wieder einmal die Erinnerung an seine Kindheit gepackt – diesmal zur Himbeere, die bereits seit Juni zur Reife ansetzt. In milden Jahren und geschützten Lagen kann man Himbeeren in der Oberlausitz mitunter noch bis in den Oktober pflücken.
Niesky. „Drei oder vier Jahre mochte ich gewesen sein. Es war unmittelbar nach dem Krieg und meine Mutter war mit einer guten Bekannten aus der Nachbarschaft mit dem Fahrrad auf das Land gefahren, um an einem Waldrand Himbeeren zu pflücken. Mich hatte man mitgenommen. Vorn am Lenker des Fahrrades hing das Körbchen, in dem ich saß – mit dem Blick auf meine Mutter. Ich saß vergnügt auf der Wiese am Wald und beide Frauen pflückten um die Wette, um möglichst viele der köstlichen roten Wildbeeren zu ernten. Ab und zu bekam ich auch eine in den Mund gesteckt und ich fand offensichtlich Gefallen an dem Geschmack.
Wieder zu Hause beschäftigte sich meine Mutter mit dem Sortieren oder Auslesen der Himbeeren nach dem Motto: die guten ins Töpfen, die schlechten auf ein gesondertes Häufchen. Die schlechten Himbeeren – und das gilt noch heute – haben Maden und taugen nicht zum Essen.
Wie gesagt, meine Mutter sortierte die Himbeeren auf zwei Haufen und ich sah interessiert zu, immer in der Hoffnung etwas abzubekommen. Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür und meine Mutter ging hinaus. Aber nicht, ohne mich vorher zu belehren, ja nicht von den Himbeeren zu naschen. Doch die Verführung war zu groß. Sekundenlanges schwanken zwischen mahnenden Worten und den besten Himbeeren aller Zeiten – mein Verlangen siegte. Schnell griff ich in den kleineren Haufen hinein und verschlang Beere für Beere. Ein Haufen war weggeputzt.
Ich kann nicht mehr nachvollziehen, wie meine Mutter geguckt hat, als sie wieder am Küchentisch saß. Jedenfalls brach sie in schallendes Gelächter aus, als sie meinen vom roten Saft der Himbeeren gezeichneten Mund sah und den fehlenden Haufen zur Kenntnis nahm. Ich muss völlig irritiert gewesen sein, denn ich erwartete eine gehörige Abreibung, Geschimpfe und vielleicht auch das Langziehen der Ohren. War es doch in der Notzeit nach dem Krieg fast eine strafbare Handlung, die vorgesehenen Lebensmittel vor dem eigentlichen Verzehr schon auf unlautere Art zu verspeisen. Aber nichts davon trat ein. Stattdessen das lustige und übermütige Lachen meiner Mutter. Was war geschehen? Ich konnte mit meinen drei oder vier Jahren noch nicht die beiden Himbeerhaufen unterscheiden und hatte mich für den kleineren Berg entschieden. Vielleicht auch deshalb, um nicht einen zu großen Schaden anzustellen. Nein, ich hatte den aussortierten Haufen verspeist, wo angefaulte und mit Maden gespickte Beeren ausgesondert waren. Mir hat das auch alles nichts geschadet. Na dann – guten Appetit!“