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Obdachlosigkeit: Klare Sicht auf die „Wölkle“ und die Welt

Obdachlosigkeit: Klare Sicht auf die „Wölkle“ und die Welt

Behördenschreck Immanuel Joachim Seeger ist – häufig mit dem Fahrrad unterwegs – aus dem Görlitzer Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Obdachlose haben es in diesem Winter besonders schwer. Immanuel Joachim Seeger hat manche Erfahrungen gemacht, die mit warmen Worten von Behörden keinesfalls in Einklang stehen.

Region. „Wie jedes Jahr zu Beginn des Winters ist die Situation wohnungsloser Menschen besonders brisant“, leitet das Görlitzer Rathaus eine Pressemitteilung ein, in der es weiter heißt: „Wenn, bedingt durch die fallenden Temperaturen, Gefahr für Leib und Leben droht, wird die Möglichkeit eines warmen Schlafplatzes für viele Menschen existenziell“. Die Stadt gibt folgend Hinweise, welche Vereine in Zusammenarbeit mit ihr helfen würden. 

Ähnlich gelagert ist der Fall im rund 50 Kilometer entfernten Bautzen. Dort kümmert sich in erster Linie der Brücke e.V. um Männer und Frauen ohne ein Dach über dem Kopf. Obwohl dessen Vorstand sich selbst auferlegt hat, in Zeiten von Corona keine Informationen zur Unterbringung von Obdachlosen an die Pressevertreter durchzustellen, hilft eine Anfrage bei der Stadtverwaltung weiter. Aus dem Rathaus ist unter anderem zu erfahren, wie in der Notunterkunft an der Äußeren Lauenstraße Weihnachten verbracht wird. „Im Hinblick auf die Festtage ist besonders zu erwähnen, dass es dank einiger Spenderinnen und Spender aus Bautzen Weihnachtspäckchen, Stollen und Kaffee vor Ort geben wird“, erklärte eine Sprecherin. Sie fügte hinzu, dass das Domizil auch an den Sonn- und Feiertagen geöffnet ist. Es biete ein Dutzend Übernachtungsplätze, acht davon seien mit Stand Dienstag in Anspruch genommen worden. Städtische Sozialarbeiter würden die Betreuung der Obdachlosen sicherstellen. Indes gelte auch für wohnungslose Menschen in der Spreestadt die 3G-Regel, wenn sie einen Termin im Rathaus wahrnehmen. Wie sich das Ganze im Fall der Bleibe auf Zeit an der Äußeren Lauenstraße darstellt, dazu hüllte sich die Kommune in Schweigen.

Erzählungen wie die von Immanuel Joachim Seeger lassen nur erahnen, wie schwierig die Situation für ihn und andere Menschen ohne Obdach geworden ist. Der in Görlitz lebende Schwabe betrachtet viele Angebote als Alibihilfen – insbesondere unter Corona hätten viele die Kraft verloren, die Hürden zu überwinden, die vermeintlich offenen Tore zu durchschreiten. Denn auch für ihn und seine Kollegen gelten mittlerweile harte 2G-Regeln, die zu verborgen humanitären Katastrophen führen würden. Seeger ist – im Winter mit seiner alarmorangfarbenen Jacke unterwegs – stadtbekannt. In einem abendlichen Gespräch bis in die Nacht mit ihm bleibt jedoch unklar, wieso er als Diplomingenieur in seinen heutigen Lebensweg gelangte und wie er dennoch sein sauberes Auftreten hinbekommt. Von Freunden ist die Rede – möglicherweise findet er bei Ihnen zumindest zeitweise Bleibe.

Unzweifelhaft ist, dass auch er regelmäßiger Besucher von Corona-Testcentern ist und fern von Alkohol- oder Drogenkonsum ganz anderes agieren kann, als andere, die wie er OFW (ohne festen Wohnsitz) leben. Er selbst umschreibt das Kürzel anders: „Ohne fließend Wasser, obere feuchte Wiese, ordentlich finsterer Wald, am ortseigenen flachen Weiher, offene freie Weltenmeere“, sprudelt es aus ihm nur so heraus. Und beim Anschauen des klaren Sternenhimmels „und die Wölkle dabei betrachtend“ sei ihm als Wohnsitz das „orbitale finstere Weltall“ eingefallen, sagt der in Göppingen geborene Mann.

Er hört sich genau an, welche Hilfen die Stadtverwaltung Redakteuren in der eingangs genannten Pressemitteilung so alles nennen. Letztlich sei er ja auch sonst regelmäßiger Leser unserer Zeitung. Alternativen für ihn seien selbstredend rar. So biete die Suppenküche des Vereins für Diakonie und Stadtmission Görlitz e.V. in der Langenstraße 43 von Montag bis Freitag von 11.00 bis 14.00 Uhr günstiges Essen sowie eine kostenlose Grundversorgung an. Mittwochs von 12.00 bis 13.00 Uhr ist dort auch die Kleiderkammer geöffnet. Dienstags von 14.00 bis 18.00 Uhr öffnet ferner der Teekeller seine Türen für jeden. Ebenso mittwochs von 10.00 bis 11.00 Uhr könne man dort kostenlos duschen. Von Montag bis Freitag ist es hier ferner möglich, schmutzige Kleidung abzugeben und in der „Waschmaschine für Bedürftige“ waschen zu lassen.

Das Suppenküchenmobil fährt jeden Mittwochabend ab 17.00 Uhr durch Görlitz und verteilt kostenlos Suppe an der Bahnhofsmission, am Luther-, Marien- und Theaterplatz.

Für Fragen zur Wohnungslosigkeit bietet der Kreisverband Oberlausitz der Arbeiterwohlfahrt im Auftrag der Stadt eine Beratungsstelle in der Zittauer Straße 17 an. Diese Stelle ist auch Ansprechpartner für jeden, der sich von Wohnungslosigkeit bedroht sieht – hier wird gegebenfalls auch eine kurzfristige Unterbringung in einer Unterkunft organisiert. Die Mitarbeiterinnen sind unter der Telefonnummer (03581) 405 162 zu erreichen.

Auf einem langen Gang vom Rondo im. Jakoba Böhma auf polnischer Seite erreichen wir den Südausgang des Bahnhofs, wo die Bahnhofsmission eine kostenlose Grundversorgung von Montag bis Freitag von 8.00 bis 18.00 Uhr und Samstag von 8.00 bis 12.30 Uhr anbietet. Vor deren Tür verfinstert sich Seegers Blick und er weist er auf zwei nebeneinander hängende Schilder, die widersprüchlicher nicht sein können: „Zutritt nur für Geimpfte und Genesene“ sowie „Bahnhofsmission. Wir sind für sie da!“.

Dabei betont doch die Stadt in ihrer Pressemitteilung: „In der Zeit der Pandemie und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen ist es wichtig, Rücksicht zu nehmen und aufeinander zu achten.“ Oder lauert die nun häufigere Aussicht im Folgesatz: „Oft schon konnte der Notruf (Rettungsdienst 112; Polizei 110) eines aufmerksamen Mitbürgers Leben retten.“

Seegers eigentliches Thema ist jedoch die Frage: „Alle Behörden plärred rum, wo isch der Ausweis?“ Seeger kramt aus seiner Tasche dutzende von Behördenschreiben in seinen Angelegenheiten. Persönlich leidet er etwa unter dem Kampf mit der Stadtbibliothek. Der Kreislauf fehlender zufriedenstellender Papiere und der Teilhabe an Kultur und Bildung erinnern an das Hamsterrad des Hauptmanns von Köpenick.

Der aus Schwäbisch Hall einst wohl in Sachen einer Familienangelegenheit nach Görlitz gekommene Schwabe stöbert oft endlos in den langen Gesetzessammlungen und treibt die Behörden im hart erarbeiteten Wissen um seine Rechte in viele Erklärungsnöte. „Ich hatte eine riesige Bibliothek wie kein Zweiter“, sagt er, und jetzt könne er sich nicht einmal etwas ausleihen. Auch der Internetzugang dort funktioniere wegen eines fehlenden Benutzerausweises nicht. Doch Seeger, der mit Handytelefonnummer sogar im Onlinetelefonbuch verzeichnet ist, bleibt beharrlich und schaffte es, selbst an der Bundestagswahl teilzunehmen. Beiläufig findet er Dankesworte für Mirko Schultze von den Linken, der ihm einen Thermoschlafsack organisiert habe.

Zu sprechen sei er trotz Handy dennoch eigentlich nicht, denn die Ladefrage des Akkus verhindere seine Erreichbarkeit weitgehend. Verzeichnet ist er im Telefonbuch mit der Adresse Rothenburger Straße 32 A – dem Obdachlosenasyl von Görlitz. Doch diese Adresse bleibe eine Fiktion. Immanuel Joachim Seeger ist wohl einer der ganz wenigen, die in Coronazeiten überhaupt noch ihre Schlupfwinkel finden.

Till Scholtz-Knobloch und Roland Kaiser / 24.12.2021

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Kommentare zum Artikel "Obdachlosigkeit: Klare Sicht auf die „Wölkle“ und die Welt"

Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

  1. Fritz schrieb am

    Was für ein langer Artikel über die Obdachlosigkeit..........warum ist der Herr Seger nicht in Schwaben geblieben ?????

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