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Der 17. Juni 1953 in Görlitz – ein Zeitzeugenbericht

Der 17. Juni 1953 in Görlitz – ein Zeitzeugenbericht

Wolfgang Liebehenschel Foto: Till Scholtz-Knobloch

Görlitz. „Als 17 1/2-jähriger Schüler hatte ich am 17. Juni 1953, wie üblich, bis 13.35 Uhr Unterricht. Am Abend zuvor kamen Gerüchte in Umlauf, dass in Berlin die Arbeiter gegen Normerhöhungen und Lohnsenkungen auf die Straße gingen. Bei vielen kam Freude auf, bei den damals noch wenigen Systemträgern blanke Angst.

FDJ präsentiert das Gewehr

Mit dem frühen Schulweg am 17. Juni waren diese Gerüchte sofort Thema Nr. 1. Schon in der großen Pause um 9.35 Uhr durften wir Schüler unseren täglichen Pausenrundgang auf der vor dem Schulgebäude liegenden Grünanlage nicht antreten, sondern wurden durch „unsere“ FDJ’ler, die sich mit sechs KK-Gewehren gewappnet hatten, in der Eingangshalle zurückgehalten. Ganz nahe vorbei zogen nämlich die Werktätigen aus der Südstadt in Richtung Stadtzentrum und skandierten lautstark, dass die angeordneten Normerhöhungen bei gleichbleibenden Löhnen zurückgenommen werden müssten und die Regierung der DDR abtreten solle. Die FDJ’ler sagten: „Wir stehen vor der Schule, um euch vor den Schreihälsen zu schützen!“ Dabei drehten sie uns aber das Gesicht zu, nicht den Demonstranten! In den anschließenden Stunden erlebten wir, dass die Lehrer nervös und am offenen Fenster lauschend den Worten des Stadtlautsprechers folgten und uns „beschäftigten“. Unsere wenigen „Blauhemdträger“ (FDJ) sahen sich oft besorgt an und um. Aus der Schule war nicht rauszukommen, bis uns am Ende eingeschärft wurde, sofort ’schnurstracks nach Hause zu gehen’.

Sträflinge auf dem Postplatz

Das hieß jedoch für mich, schnell die Schultasche heimzutragen und mich sofort auf dem „Platz der Befreiung“, dem früheren Postplatz, unter die Demonstranten, die alle meistens ihre Arbeitskleidung trugen, zu mischen. Das war gegen 14.10 Uhr. Ich erlebte, wie aus dem Haupttor des Amtsgerichtsgefängnisses die eingesperrten Sträflinge, hauptsächlich politische, herausströmten und von der schreienden, jubelnden Masse begrüßt wurden. Mitten in diese Situation hinein wagten sich zwei aus der Hauptstraße, der Berliner Straße, heranheulende Feuerwehrlöschzüge, in die Menge einzudringen. Die Feuerwehrmänner wollten Schläuche entrollen, um die Massen auseinanderzuspritzen, kamen aber nicht weit, denn Arbeiterfäuste rissen die Uniformierten herab, circa 25 Mann hoben tatsächlich die Hinterteile der Fahrzeuge hoch, die Räder drehten durch und die Autos kamen nicht weiter. Einige Volkspolizei-Justizvollzugsangestellte wurden durch die Tausende zählende Menge geschubst, als Verräter beschrien und verjagt.

„Der Spitzbart muss weg“

Dann rannte ich zum Leninplatz, dem alten Obermarkt, und sah eine riesige Menschenmenge stehen, die durch dauernd zuströmende Demozüge der Werktätigen verschiedener Großbetriebe verstärkt wurden und lautstark schrien, „der Spitzbart (Ulbricht) muss weg“, und es sei mit der Regierung und der SED abzurechnen, „Deutschland wieder vereinigen“, „Freie Wahlen“ usw. Schon zwanzig Minuten später stürmten wir unser Schulgebäude, ein riesiger Ulbricht stürzte die Treppe herab, zersplitterte und die etwa 30 Schüler, die dem Pedell (Hausmeister) unter dem Versprechen, nichts zu beschädigen, die Schlüssel abnahmen, räumten ihre Klassen von allen politische Parolen frei und warfen alles durch die Fenster in den Hof. Ein (politischer) Lehrer, der stellvertretende Schulleiter, bekam von einem Abiturienten, dem langen Kirchner, im Flur eine Ohrfeige, verkroch sich aber sofort im Rektorzimmer. Inzwischen füllte sich die Aula mit Schülern, die nun lautstark forderten, dass Russisch, Polnisch, Gegenwartskunde, Geschichtsfälschung und Zwangsdemonstrationen und einige verhasste Lehrer abzuschaffen sind, ein ganz liberaler Lehrer (der auch gerade erschien) als Rektor einzusetzen sei und alle Alt- und Neu-Sprachen wieder frei eingeführt werden müssten. Ein Schülerrat wurde gewählt, und fünf Schüler ins Rathaus zur Bildung eines neuen Stadtrates abgesandt. Dann verließen alle die Schule.
Kaum wieder gegen 15.30 Uhr auf dem Obermarkt angelangt – inzwischen war der Platz voller Menschen (der über 35.000 fasst) bei der schon zweiten Großdemonstration an diesem Tage – erlebte ich die freiheitlichen, demokratischen spontanen Reden von zahlreichen Demonstranten – einfache oder stümperhafte, wütende oder beruhigende, kluge, vorsichtige und höchst politische – die einen Schluss mit dem DDR-System, die Auflösung der Kasernierten Volkspolizei (KVP), die wirkliche Demokratie und die Abschaffung von Zwangsnormen sowie Freiheit und Wiedervereinigung forderten, auch die Aufhebung der 1950 unterzeichneten Oder-Neiße-Grenze. Es wurde „Fort mit den Lakaien des Sowjetregimes“ gerufen und etliche namhafte Bürger wurden als sofortiger Ersatz für den SED-Oberbürgermeister lautstark nominiert, darunter ein bekannter Arzt und ein Architekt.

35.000 verlassen Obermarkt

Ein SED-Funktionär wurde nach einem Rechtfertigungsversuch über die Köpfe der Demonstranten geschleudert und etliche Redeversuche alter SED-Aktivisten übertönt. Plötzlich fuhren aus den Seitenstraßen etliche LKW’s der KVP in die Menge, Bewaffnete sprangen ab, wurden schwerstens als Verräter, Schurken, „Ihr Schweine!“ beschimpft und hin- und hergestoßen. Ein ganz junger KVP-Mann stand mit einem Karabiner vor mir, aber wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. Um mich stehende Arbeiter drohten ihm mit Fäusten. Schließlich hieß es, der sowjetische Stadtkommandant habe den Ausnahmezustand verfügt. Aber die circa 35.000 gingen nicht vom Platz, sondern sangen: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland...“. Einige weinten vor Rührung.

Gegen 16.10 Uhr überraschten plötzlich, aus einer Querstrasse, der Fleischerstraße, einfahrend, circa ein Dutzend sowjetische Armeelastwagen mit aufgesessenen Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetts und dahinter langsam rollenden zwei oder drei Panzern in die tobende Menge, wobei letztere die Kanonen bedrohlich über die Köpfe drehend, hin und her wendeten.

Selbstverwalter im Rathaus

Einige der Sowjets schnallten jedoch ihre Helme ab und winkten damit den Menschenmassen zu (was aus ihnen geworden ist wissen die Götter). Die spontan gewählten Volksvertreter zogen tatsächlich ins Rathaus am Untermarkt, wo – wie wir noch nicht wussten – diese von inzwischen eingetroffenen Volkspolizisten und Sowjetarmisten „vereinnahmt“ wurden. Die so verschreckte und verschüchterte Masse zerstreute sich unter dem Eindruck der militärischen Übermacht langsam in den Seitenstraßen. Ein scharfes Ausgehverbot ab 22.00 Uhr und ein Verbot unangemeldeter Ansammlungen über drei Personen legte sich tagelang über die Stadt.
Festzustellen ist: Görlitz hatte sich somit als einzige Großgemeinde der DDR organisiert ein freies, demokratisches System gewählt und schaffen wollen, das allerdings in den Abendstunden und den folgenden Tagen und Wochen durch Verhaftungen, Verhöre, Verfolgungen und Einkerkerungen mit Verbringung zahlreicher Demonstranten, so auch mehrerer meiner Klassenkameraden, in die Keller der Volkspolizei oder nach Dresden, unter den tatsächlich am 18. Juni 1953, wie ich es sah, langsam aufs Pflaster klatschenden Panzerkettengliedern in den Straßen und den Dörfern und Kleinstädten der Umgebung, begraben wurde. Mehrere Dutzend der Teilnehmer wurden zu hohen Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Ein Görlitzer Demonstrant wurde von einem DDR-Richter zum Tode verurteilt, aber von den Sowjets zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt. Ein Arbeiter von mehreren fiel beim Öffnen seiner im stehenden Zustand nach Dresden gefahrenen, zugenagelten Transportkisten tot heraus, so erzählte es Jonny Musczalla – der Vorsitzende des Bautzen-Komitees. Etliche Geschäftsleute und Bürger erhielten 15, 10, 8 und 6 bis drei Jahre Einzelhaft, ein (völlig unschuldiger) mit Gefängnisschlüsseln befrachteter Rechtsanwalt kam wegen „guter Führung“ im Gelben Elend zu Bautzen nach drei Jahren frei. Ein aus Zodel stammender Mann erhielt 15 Jahre Gefängnis, wurde aber als gebrochener Mensch nach zehn Jahren freigelassen. Er starb wohl 1992. Andere Zodeler und Ludwigsdorfer wurden auch mit Gefängnis bestraft. Der Ort ehrte sie am Gerbermuseum durch eine Gedenktafel. 

Machthaber spielen Gnade

Die BDVP (Bezirksdirektion der Volkspolizei) Dresden gab an, dass bis 19. Juni im Kreis Görlitz 46 Personen (von angeblich 141 im Bezirk), darunter vier Frauen und vier Jugendliche unter 18 Jahren, verhaftet wurden. Anfang August 1953 erklärte die SED-Bezirksleitung, dass circa 250 bis 300 „Provokateure/Rädelsführer“ verhaftet seien, darunter auch drei Ärzte und drei Oberschüler aus Görlitz, wie der Abiturient Ingo Havenstein und zwei aus meiner Klasse, die aber bald wieder freigelassen wurden. Einer meiner Klassenkameraden, Rudi K., kam erst nach fünf Tagen Haft wieder zum Unterricht. Damit wollte die SED demonstrieren, wie „großzügig“ sie mit Leuten umginge, die keine „Rädelsführer“, sondern nur Verführte waren. Aus der Statistik des Bezirksgerichtes Dresden ist erkennbar, dass vom 21. bis 30. Juni 1953 gegen 61 Personen Anklagen erhoben wurden. Bis zum 23. Juli ermittelten das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und die Volkspolizei gegen 260 Personen. Gegen 173 wurde Anklage erhoben, 23 davon beim Jugendgericht. 113 (65%) Personen waren bis zum 23. Juli verurteilt. 30 Verurteilte erhielten vom Bezirksgericht bis zu ein Jahr Gefängnis, gegen 51 wurden ein bis fünf Jahre verhängt, gegen 14 zwischen fünf bis zehn Jahre, und gegen sieben Personen gab es innerhalb eines Monats zwischen zehn und 15 Jahre Gefängnis – allein davon sechs aus den Kreisen Görlitz und Niesky. Dazu kam noch das Urteil „lebenslänglich“ für Lothar Marquirt, Kreis Görlitz. In zwei Prozessen gegen 22 angeklagte Einwohner aus Niesky und Zodel wurden Freiheitsstrafen von insgesamt 154 Jahren und ein Urteil „lebenslänglich“ verfügt.

Schlesiern das Rückgrat gebrochen

Die Zerschneidung der Stadt Görlitz im Jahre 1945 durch die Neiße-Grenze und die miserablen, von Mangel begleiteten Arbeits- und Wirtschaftverhältnisse, der durchlebte Hunger von 1945 bis 1951, die Wohnungsnot mit dem Zuzug tausender Vertriebener aus dem übrigen Schlesien und die Zwänge unter der Diktatur, wie das Verbot, den Rundfunk der westlichen Welt frei hören zu dürfen, harte Reisebeschränkungen und Verfolgung christlicher Gemeinden sowie des „Rübermachens“ Tausender Görlitzer „nach dem Westen“, der Abgabedruck auf die Bauern und die beginnenden Verstaatlichungen der Bauernhöfe, die ungewohnte Randlage im Osten der DDR, waren Anlass, sich die demokratische Freiheit und Gerechtigkeit zu suchen, die durch den Aufstand opferbereit und mutig erhofft wurden. Und die durch die Verfassung der DDR „garantiert“ waren. Durch den Schrei nach Wiedervereinigung sollte dieser Aufbruch, der die ganze DDR mehr oder weniger stark erfasste, gekennzeichnet werden. Aber er wurde unverstanden brutal unterdrückt und den eingeborenen Niederschlesiern westwärts der Neiße das Rückgrat gebrochen. Trotzdem blieb ihnen Schlesien im Bewusstsein bis die Mauer am 13. August 1961 ihnen alle Hoffnung nahm.“

Wolfgang Liebehenschel / 17.06.2023

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