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Glosse: Marode und sicherheitsfanatisch

Glosse: Marode und sicherheitsfanatisch

Der defekte Triebzug ist in den Haltepunkt Gersdorf endlich eingefahren, der Folgeverkehr staut sich (hinten rechts) und ratlose Reisende sind erst einmal ausgestiegen. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Gersdorf. Das 9-Euro-Ticket hat auch mich gelockt. Als derzeitiger Redaktionsvertreter für den Oberlausitzer Kurier Bautzen wollte ich sparen und nahm am Montag statt des Autos den 8.11-Uhr-Zug von Görlitz zu einen Termin in die Spreestadt.

Doch schon kurz hinter Görlitz-Rauschwalde quälte sich der Triebwagenführer hörbar mit der Beherrschung des Fahrzeugs. Druckluft wurde abgelassen und als die Spitze des Zuges schon den Bahnsteig in Gersdorf kitzelte ging gar nichts mehr.

High-Tec-Land auf Talfahrt

Nach einer Stunde Wartezeit und der Erkenntnis, dass der Termin ohnehin platzt, entschloss ich mich, mit einem Gegenzug gleich zurück nach Görlitz zu fahren. Aber Hochsicherheitsparadies Deutschland sei dank, darf auch in der maroden Infrastruktur ein Weg von drei Metern über die Böschung zum Bahnsteig nicht angetreten werden. Die Tür blieb zu. Als mit nochmaliger Verspätung ein paar weitere Meter geschafft waren, leerte sich der Zug und auch der Folgezug stand wartend.

Gleich mehrere entnervte Fahrgäste trudelten noch auf dem Gegenbahnsteig ein um wieder zurückzufahren. Da nun jedoch der Gegenbahnsteig durch eine rote Ampel am Bahnübergang gesperrt war, nahmen gleich mehrere Reisende den gefährlichen Weg vor dem einfahrenden Gegenzug. Ein extrem kurzer Signalton schien nämlich eher anzudeuten: „Nun lauft schon, statt stehenzubleiben – ich habe die Situation verstanden“. Ein Irrtum, denn der Fahrer zeigte sich dann doch erbost. Übertriebene Sicherheit zuvor bei der Einfahrt des Zuges von Görlitz hatte – weil das Nervenkostüm eine feste Größe in Sicherheitsabwägungen sein sollte – in Kettenreaktion also versagt! Ist aber eine übertriebene Sicherheitskultur nicht schleichend in unserer Gesellschaft getreten?

Es fing mit Brötchen an

Während Dorfkinder Jahrtausende lang in den Ställen mit allen Keimen abgehärtet wurden, fing unsere zunehmend gefährlich sterile Kultur damit an, Kunden in Backshops zum ganz und gar nicht nachhaltigen Anziehen von Plastikhandschuhen zu zwingen, nur um ein Brötchen aus dem Fach zu greifen!

Anstatt wie in anderen Ländern, Fußballfans kontrolliert Stimmung durch Bengalofeuer verbreiten zu lassen – damit keine gefährliche illegale Nische entsteht –, setzte die pauschale Kriminalisierung von heranwachsenden Fans ein. Kaum eine TV-Übertragung, in der nicht ein Reporter bei Pyrotechnik seine antrainierte Empörung zur Schau stellt. Und dann kam die Coronazeit, in der man nach „vollständiger Schutzimpfung“ immer noch getestet werden soll, erkranken kann und im Zug zum Masketragen verpflichtet ist.

Letzteres tat der brave zugreisende Michel in große Mehrheit, obwohl immer mehr Menschen angesichts der ausgefallenen Lüftung sichtlich nach Luft schnappten. Aber das Prinzip ist hierzulande eben wichtiger als die rationale Erkenntnis, dass sich eine andere Gefahr – die noch nicht mittels einer Verordnung geregelt ist – als deutlich gefährlicher erweisen kann.

Till Scholtz-Knobloch / 27.06.2022

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