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Tourismus über den Lausitzer Strukturwandel

Tourismus über den Lausitzer Strukturwandel

Michael Schicketanz gibt Touristen in der Innenstadt von Wittenberg den Philipp Melanchthon. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Görlitz/Rietschen/Wittenberg. Michael Schicketanz kennen die meisten Menschen in der Lutherstadt Wittenberg eher als den Philipp Melanchthon. Als Wegbegleiter Luthers verkleidet, animiert er Touristen in der Stadt an der Elbe ihre Horizonte zu erweitern.
Als Veranstalter von Bildungsreisen ist Schicketanz selbst jedoch auch in fremden Gefilden unterwegs, sofern man Görlitz dazu rechnen kann. Er ist in Halle geboren, aber die Eltern und Großeltern stammten aus der Landskronstraße. „Ich wollte in einer schönen Stadt leben, Görlitz stand auch auf der Liste, aber damals fehlte die Arbeit in Görlitz“, umschreibt er seinen Weg in die Lutherstadt. „Aber heute würde ich Görlitz wählen“, sagt er und lacht. Görlitz stehe erst seit letztem Jahr auf seiner Angebotsliste für einen Veranstalter aus Unna bei Dortmund. „Dennoch ist das nun schon die vierte Fahrt hierher; das toppe ich nur mit Potsdam“, äußert er sich zur großen Nachfrage.

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Die Bildungsreisegruppe startete vom Görlitzer Obermarkt mit Rädern auf eine Exkursion. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Am Dienstag versammelte er seine Gruppe wieder um einen Kleinbus mit Anhänger am Obermarkt, der die Fahrräder bringt, mit denen es auf Radtour auf die polnische Seite zur orthodoxen Kirche, zur „kleinen Landeskrone“, zur Ruhmeshalle und zum Stalag geht, ehe der Bogen zum Berzdorfer See geschlagen wird. „Zusammenleben, zusammenwachsen, zusammenarbeiten in der Europastadt, grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ seien Aspekte, mit denen sich Bildungsreisen ebenso gut begründen ließen wie aktuell auch die Umstrukturierung des Lausitzer Braunkohlereviers. An einem Tag geht es so auch nach Rietschen. „Es geht bei der Durchführung von Bildungsreisen insofern nicht darum, schöne Museen zu besuchen, sondern um die politische Bildung mit Grenzlage und Strukturwandel. Ein Museum sei jedoch möglich – der Besuch in der Stasi-Gedenkstätte Bautzen, der den Anforderungen politischer Bildung natürlich genügt. Das quasi verrückte sei jedoch, dass ausgerechnet Sachsen, wie auch Bayern, ihren eigenen Bürgern keine Möglichkeit für Bildungsreisen  böten. Michael Schicketanz sieht den Begriff der politischen Bildung dabei weit gefasst: „ In Wittenberg hatte ich einmal Schwierigkeiten einen künstlerischen Aspekt einer Bildungsreise zu begründen, obwohl ich sage: Kunst ist eigentlich immer auch Politik!“.

Auch ohne Museen sind die Teilnehmer auf dem Obermarkt jedoch sehr angetan. Eine Teilnehmerin aus Göttingen sagt der Redaktion: „Ich mache gerne Bildungsurlaub in den neuen Bundesländern, weil wir bis zur Wende keine Gelegenheit dazu hatten. Weil Görlitz am weitesten weg ist, musste Görlitz bislang so lange auf mich warten.“ Der Energieaspekt mit dem Tagebau habe nun auch eine Rolle gespielt. „Ich habe mit so viel Tourismus in der Stadt nicht gerechnet, aber das liegt wohl an der Schönheit der Stadt. Daneben ist allen aber besonders der Leerstand in vielen Häusern aufgefallen.“

Und ein Mitreisender aus Nordrhein-Westfalen bekennt freimütig: „Ganz ehrlich – seit drei Jahren habe ich Bildungsurlaub für mich entdeckt, weil auch dieser zusätzlich Entspannung von der Arbeit ermöglicht.“ Aber dadurch hätte er tatsächlich neue Fragestellungen entdeckt und sich wirklich fortbilden können. „Mit der Umstrukturierung und Renaturierung bin ich letztes Jahr bereits durch eine Bildungsreise in den Spreewald konfrontiert worden. Und nun komme ich nach Görlitz und sehe diese Altstadt – Wahnsinn!“.

Michael Schicketanz hört solche Urteile über Görlitz immer wieder. „Ein Teilnehmer – ohne ihm zu nahe zu treten – sagte mal, ihm sei in Görlitz zu viel Jüdisches dabei gewesen, aber es geht ja primär nicht um Erholung, sondern um Bildungsarbeit.“ Und wer erwartet schon eine Stadt mit zwei intakten Synagogen wie Görlitz, wo auch der jüdische Friedhof noch in Schuss ist.

Till Scholtz-Knobloch / 04.10.2022

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