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Tränen um einen zerrissenen Adventskalender

Tränen um einen zerrissenen Adventskalender

Dieser typische historische Papier-Adventskalender kann ohne Wald nicht der von Klaus Hemmerling gewesen sein. Foto: Spielzeug- und Kinderweltmuseum Steinhude mit Sammlung Scholtz-Knobloch

Klaus Hemmerling, treuer Leser des Niederschlesischen Kuriers aus Niesky, hat eine anrührende Erinnerung aus weihnachtlichen Kindertagen eingesandt, die freilich etwas gekürzt ihren Platz findet.

Niesky. „In jungen Kinderjahren schenkte mir meine Mutter einen wunderschönen Adventskalender – in der Vorweihnachtszeit gab es nichts Schöneres für mich. Quer über den Kalender fuhr im tiefsten Winterwald eine Eisenbahn. Vorn zog eine Dampflokomotive, die aussah wie eine echte Lok, wie ich sie schon auf dem Bahnhof gesehen hatte, zwei oder drei Wagen hinter sich her. Sie schnaufte, stieß ständig große Dampfwolken aus, die in den Winterhimmel gingen. Ich ließ den im Winterwald fahrenden Zug in meinen Gedanken immer wieder fahren, ließ Leute aus- und einsteigen, Gepäck aus- und einladen.

In den ersten Adventstagen wurde dieser Kalender aus einem Stück bunten Papier, aufgeklebt auf einer Pappe, mein Lieblingsspielzeug. Nicht zu vergleichen mit den heutigen grellen Adventskalendern, die sich an Größe übertreffen wollen, vollgepackt mit Süßigkeiten. Süßigkeiten, Spielzeug Geldscheine und Geldmünzen aller Art und Größe sind in den Wettbewerb der Eltern und Großeltern getreten, das Beste für die lieben Kleinen zu tun.

In meiner Kindheit gab es diese Art der Adventskalender noch nicht. Sie wurden auch nicht schon im September verkauft. Ich erfreute mich jeden Tag über einen anderen Inhalt, der versteckt war hinter den zu öffnenden Türen und Fenstern der Lokomotive, den einzelnen Wagen, der in den Himmel steigenden Dampfwolke, den Bäumen im Wald. Ich schaffte es nicht bis zum vierundzwanzigsten Dezember, den Tag den wir damals den Heiligend Abend nannten. Irgendjemand erklärte mir damals, warum dieser Tag so genannt wurde und ich hoffte, dass im Öffnen des größten Fensters, einer großen Türe im Packwagen, des Rätsels Lösung steckt. Nein, es kam nicht dazu. Denn meine Mutti und ich waren ausgerechnet in der Adventszeit in Streit geraden. Warum, das kann ich heute nach Jahrzehnten nicht mehr erklären. Vielleicht ging es um die Lüftung des Geheimnisses der Weihnachtsgeschenke, vielleicht ging es darum, weil der Heilige Abend mit der Bescherung und den Überraschungen nicht sofort sein konnte, sondern erst in ein paar Tagen. Ich könnte mir das ja mal am Adventskalender ansehen, wieviel Tage es noch dauern würde. Heute würde man sagen, der Streit zwischen Mutter und Sohn eskalierte.

Vielleich trieb ich es mit meiner Drängelei soweit, dass meiner Mutter in der schon angestrengten Vorweihnachtszeit einfach die Nerven durchgingen. Plötzlich nahm sie den von mir so geliebten Adventskalender, das schönste Geschenk, was ich jemals in der Vorweihnachtszeit von Mutter erhalten hatte, von der Wand und zerriss diesen in vier Stücke.
Mir blieb der Atem stehen und meiner Mutter auch. Wir beide begriffen sofort was da angerichtet war. Wir beide brachen in Weinen aus. Die Mutter nahm ihr Kind in die Arme und strich über meinen Kopf. Mit lautem Schluchzen kuschelte ich mich an sie. Jeder wollte schuld an dieser Situation sein. Jeder wollte etwas gut machen.

Als die Tränen versiegten und meine Mutter mich getröstet hatte, holte sie Schere und Mehlkleister und hatte die gute Absicht, den zerrissenen Adventskalender wieder zusammenzukleben. Aus dieser guten Absicht wurde nichts. Die Lokomotive fuhr nicht mehr auf den Schienen, sondern ein Stück daneben. Die Anhänger machten was sie wollten, die Rauchwolken der Lok stiegen nicht mehr in den Himmel, sondern blieben in den Bäumen hängen. Ein Durcheinander war im Wald entstanden. Kurz entschlossen zog sich meine Mutter den Mantel an und ging in die Stadt. Für mich unerklärlich was sie da wollte. Ihre Abwesenheit nutzend machte ich mich über die Stücke des Adventskalenders her und guckte hinter die noch nicht geöffneten Türchen. Ich fand einen Schaffner der die Fahrkarten kontrollierte, ich sah Kinder die Weihnachtsgeschenke verpackten, ich sah Glaskugel und Kerzen, ich sah Lametta und Sterne. Hinter dem Türchen mit der Nummer vierundzwanzig fand ich den Weihnachtsmann mit bunten Päckchen und einer Rute, die er aber in seinem Gürtel stecken hatte.

Alle Türchen machte ich mit meinem kleinen Fingern wieder zu. Allerdings bekam ich das nicht richtig hin. Sie gingen wieder von alleine auf, was meine Mutter übersah, als sie aus der Stadt zurückkam. Was wollte sie in der Stadt? Na was schon, einen neuen Adventskalender für ihren Jungen holen – als Wiedergutmachung. Aber es gab keine Kalender mehr mit der wunderschönen Eisenbahn im Wald, mit der Dampflok, den Hängern daran und den vielen Bäumen rundherum. Aber der neue Kalender war auch sehr schön, so sagte ich es jedenfalls. Ich hatte jetzt den Vorteil, mehrere Türchen mit einem Mal zu öffnen. Ich stellte fest, dass hinter den Türchen ähnliche Bilder zu finden waren, wie im Eisenbahnkalender. Ich nahm mir vor meine Mutter nie wieder in so eine Situation zu bringen.

Was natürlich mein Geheimnis blieb. Jedes Jahr, wenn ich die Weihnachtskiste aus dem Keller hole und sie auspacke fällt mir ein wunderschöner Adventskalender in die Hände. Es ist die Frauenkirche in Dresden mit den vierundzwanzig Fensterchen. Dann kommt die Erinnerung an das beschriebene Erlebnis aus der Kinderzeit und meine Mutter.“

Till Scholtz-Knobloch / 04.12.2023

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