Zwischen den Soldaten seh’ auch ich mein Grab

Krystian Burczek, einst Pfarrer in Reichenbach und Niesky sowie Domkapitular in Görlitz betreut aus eigenem Antrieb Soldatengräber in Mengelsdorf. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Pfarrer Burczek hat eine tiefe Verbindung zu jedem einzelnen Soldatengrab in Mengelsdorf aufgebaut. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Krystian Burczek, ehemals Pfarrer in Reichenbach, später in Niesky, ist heute Gefängnisseelsorger in Cottbus-Dissenchen. Aber er bleibt weiterhin eng mit der Niederschlesischen Oberlausitz verbunden. In Mengelsdorf pflegt er an Wochenenden beharrlich Soldatengräber und sieht zwischen den 1945 gefallenen jungen Männern im damals längst verloren Krieg dereinst auch seine letzte Ruhestätte.
Mengelsdorf. Wenn diese Zeitung erschienen ist, sind die Soldatengräber in Mengelsdorf im Parkwäldchen neben der Wohnstätte des Caritasheims im Schloss bereits gesegnet. Auch in diesem Jahr hat sich der katholische Geistliche Krystian Burczek der Sache angenommen. „Ich gehe von Grab zu Grab, besprühe es mit Weihwasser, mache ein Kreuzzeichen und gebe dem Toten die ewige Ruhe. Und die Handvoll Menschen, die dazukommen, die antworten mir.“ Traditionell erfolgt dies im Nachgang zu Allerheiligen und Allerseelen und noch vor dem Volkstrauertag, der in diesem Jahr auf Sonntag, den 16. November fällt.
Krystian Burczek ist zufrieden, dass das Interesse in diesem Jahr dann doch einmal erkennbar gewachsen ist. „Möglicherweise hat das damit zu tun, dass der Krieg heute wieder wahrscheinlicher, präsenter geworden ist“, gibt er eine Vermutung ab.
„Vielleicht ist das alles ja auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein mit diesem kleinen Friedhof. Aber wenn alle schweigen, könnte die Lage ja noch aggressiver werden. Man muss auch kleine Worte sprechen und kleine Schritte nach vorne tun“, möchte auch er seine Stimme in einer Zeit klarer erheben, die Krieg in Mitteleuropa wieder wahrscheinlich hat werden lassen. Schuld liege – wenn auch unterschiedlich verteilt – immer auf mehreren Seiten. Spätestens bei Eskalationen.
Gleich in mehrfacher Hinsicht sieht sich Krystian Bur-czek betroffen. An seiner Hauptarbeitsstätte in der Justizvollzugsanstalt betreut er auch straffällig gewordene Russen, deren Trauer sich auch auf ihre Opfer richtet. Überhaupt fordere die Seelsorge bei Inhaftierten den ständigen Perspektivwechsel. Seelsorge sei dort eine echte Vertrauensfrage, reiche über konfessionelle, ja auch über religiöse Grenzen hinweg. „Auch andere Weltanschauungen spiele eine Rolle. Neben manchen sprachlichen Defiziten erlebe ich oft auch Gespräche mit Moslems, die natürlich ebenso oft auch einfach nur einen verständnisvollen Zuhörer suchen.“
„Wenn einer an Gott glaubt, dann heißt es im Gespräch oft, wir glauben an einen Gott.“ Das mache die Sache sicher einfacher. „Mancher, der um ein Gespräch bittet, hat keine Religion.“ Dennoch würden sich gerade im Angesicht des Krieges die Ängste auch dann gleichen. Viele Problemlösungen spielten sich aber ohnehin abseits solch existenzieller Fragen ab und beträfen ganz praktische Dinge des Alltags, etwa die Versorgung mit einer Zeitung.
Neben der beruflichen Perspektive ist Krystian Burczeks Herkunft selbst auch ein Spiegelbild historischer Verwerfungen im Nachgang des Krieges. Die nach 1945 nur polnisch mögliche Schreibweise seines Vornamens verrät, dass auch für seine Familie nach dem Krieg ein harter Einschnitt folgte. Der aus Himmelwitz (Jemielnica) in Oberschlesien stammende Geistliche wurde 1994 vom aus Liegnitz (Legnica) stammenden Bischof Bernhard Huhn in den kleinen deutschen Teil Schlesiens gerufen, um die in der Diaspora lebenden Katholiken zu unterstützen. Burczeks Leitspruch ist: „Es gilt ein Leben lang zu arbeiten, zu kämpfen und neu zu beginnen; nicht nur mit anderen Geduld haben, sondern auch mit sich selbst.“ Geduld muss er in seinem Amt als Gefängnisseelsorger oft beweisen, der Arbeitsethos ist ihm als Oberschlesier quasi in die Wiege gelegt.
Jemand muss sagen: ‚Macht die Augen auf!
Letztlich kümmert er sich ja quasi im Alleingang um die Soldatengräber im Schlosspark von Mengelsdorf. „Sonst würde es niemand tun“, sagt er. Der Himmelwitzer ist Vorsitzender des West-Ost-Forums, Schlesisches Priesterwerk e.V. in Münster. Was sich zur Zeit auf der Weltbühne abspiele, sei für ihn nicht akzeptabel. „Als ich noch ein kleiner Messdiener in Himmelwitz war – ich war etwa sieben – gingen wir an den Bitttagen in einer Prozession zum Franzosenfriedhof“, erinnert er sich. Bitttage sind besondere Gebetstage, die zum Beispiel der Fürbitte in der Not oder für die Ernte dienen. Damals stellte sich der heute 61-jährige Burczek die Frage, wie die Franzosen so weit bis Oberschlesien kamen.
„Später habe ich erfahren, dass Bonaparte auf diesem Weg nach Moskau zog. Viele Franzosen sind damals verwundet bei Himmelwitz gestorben und wurden dort beigesetzt. Es muss Menschen geben, die die Erinnerung an die Soldatenopfer wachhalten. Jemand muss sagen: ‚Macht die Augen auf! Geht nicht über Leichen ans Ziel!‘ Wir brauchen humane Überlegungen für diese Welt“, so Bur-czek. Und weil Soldatengräber, so der Geistliche, mahnen sollen, rettet er eben Soldatengräber vor dem Vergessen. Sein bereits verstorbener Vater und sein Bruder unterstützten ihn aus der Heimat. „Sie hatten Grabumrandungen aus Eichenholz gemacht. Grabsteine wurden bei einem Steinmetz im Nachbarort von Himmelwitz hergestellt.“ So ist „sein“ Soldatenfriedhof auch eine Art Verbindung mit der Heimat. Nun erinnert er immer wieder daran, dass, „jeder Soldat am Ende nur getrieben von der ganzen Kriegsmaschine ist.“
In seiner oberschlesischen Heimat ist der Volkstrauertag aus der deutschen Tradition heute gar ein echtes Alleinstellungsmerkmal geworden, denn in anderen Regionen Polens ist das Gedenken an Kriegstote im Grunde eher einem Heldengedenken.
Die speziell deutsche Symbolik strahlt etwa die Kriegsgräberstätte im oberschlesischen Laurahütte (Siemianowice Slaskie) aus – eine der größten deutschen Soldatenfriedhöfe im Lande. Entstanden in den 90er-Jahren im Rahmen des Deutsch Polnischen Nachbarschaftsvertrags, wurde er dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur Verfügung gestellt, damit dorthin deutsche Soldaten umgebettet werden konnten, die vor 1990 immer nur aus der Feindesperspektive, nie aber als geschundene Seelen betrachtet werden konnten. 1998 wurde dieser riesige Soldatenfriedhof mit 40.000 Plätzen der Öffentlichkeit übergeben. Allein bis 2018 fanden in Laurahütte bereits 33.283 Deutsche ihre letzte Ruhestätte.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte 1919 die Initiative zur Einführung des Volkstrauertages gelegt. Für die Deutschen in Oberschlesien ist er heute auch wieder Ausdruck kultureller Kontinuität. Der Dachverband der Deutschen Sozialkulturellen Gesellschaften in Polen veranstaltet in diesem Jahr am 16. November seine Zentralveranstaltung jedoch in Oppeln-Königlich Neudorf (Opole-Nowa Wies Krolewska). Viele deutsche Ortsverbände (DFK) ziehen mit, so in Zülz (Biala Prudnicka), in Groß Borek (Borki Wielkie) und Bronietz (Broniec) in der Gemeinde Rosenberg (Olesno), in Stollarzowitz (Stolarzowice) und Friedrichswille (Kolonia Biskupska), aber neben Oppeln auch in einer anderen Großstadt – in Beuthen (Bytom). Inmitten dieser Region liegt auch Burczeks Himmelwitz, wo er gerne deutschsprachige Gottesdienste übernommen hat.
Und so ist Krystian Burczek auch ein Stück Klammer zwischen Ober- und Niederschlesiern, Polen und Deutschland. Er hält fest: „Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“ Das sagte bereits Albert Schweitzer, der Friedensnobelpreisträger.“
Einer musste es übernehmen
Und ob Reichenbach, Niesky, Mengelsdorf oder Himmelwitz. Viele Menschen hätten die schwersten Zeiten verdrängt. „Ich spreche auch mit Menschen, die sagen, ja, meine Oma, mein Opa hat überhaupt gar nichts erwähnt. Sie haben das Thema gleich blockiert. Ein Krieg bedeutet letztlich, mit mehr als 100 Jahren Konsequenzen zu rechnen. Wir denken oft, wir seien versöhnt – mit Frankreich, mit Polen. Nein, es bedarf jedes Jahr weiter dranzubleiben.“ Über die Lokalpolitik könne er sich hierbei nicht beschweren. Es habe immer von dieser Seite Beteiligung gegeben. Doch wie ist Krystian Burczek konkret zu seiner Aufgabe um den deutschen Soldatenfriedhof in Mengelsdorf gekommen?
„Der 2012 verstorbene Leiter des Caritasheims Horst Grund konnte das hier 2003 nicht mehr weiterführen. Und da habe ich einen Brief an den damaligen Reichenbacher Bürgermeister Andreas Böhr geschrieben und schon habe ich die Sache damit quasi übernommen. Am Anfang hatte ich den ein oder anderen zur Seite, aber seit einigen Jahren mache ich das alleine in meiner Freizeit. Hier ist ein bisschen Ruhe. Und das ist so auch der Gegenpol zur Anstaltspfarrerarbeit. Ich mache das gerne alleine – schon weil das hier eine wunderschöne Natur ist. Das ist mehr als Supervision für mich. Um Allerheiligen, Allerseelen kommen dann die Höhepunkte im Jahr. Neben Mengelsdorfern und Reichenbachern kommen auch eine Handvoll Leute aus Görlitz. Das Ganze wird im Pfarrbrief seit Jahren verkündet – auch in der Wenzeslaus-Gemeinde Görlitz“, so der Geistliche. Einer, der immer teilgenommen habe, sei etwa der vor zwei Jahren verstorbene Landtagsabgeordnete Helmut Müller gewesen.
Briefe erzählen Geschichte
Neben dem grundsätzlichen Zulassen, sich mit in den Familien oft verdrängten Dingen zu beschäftigen, sieht Krystian Burczek als Hemmnis auch manches grundsätzliche Tabu vor 1990 – und das nicht allein in seiner oberschlesischen Heimat. Denn auch für die DDR standen die deutschen Weltkriegssoldaten ja auf der falschen Seite.
„Es kostet allein Kraft sich mental umzustellen, dass sich Vorzeichen insgesamt ändern“, meint er und beschreibt näher: „Menschen hatten Angst, sich zu befassen, dass sie nicht gleich extrem eingestuft werden. Dabei hat es ja mit extremen Sachen gar nichts zu tun, weil jeder Soldat einen Brief bekommen hat, dass er in den Krieg ziehen muss.“ Das alles begegne ihm besonders beim Blick in die vielen Briefe, die sich über die Jahrzehnte angehäuft haben und von denen er einige zum Termin auf dem Friedhof mitgenommen hat. Er zeigt Korrespondenz aus den Fünfzigerjahren, als das Deutsches Rote Kreuz noch häufig bei der Erforschung involviert war, wo sich die Spur von Söhnen und Ehemännern verliert. Mit dem Mauerbau wurde auch das schwieriger. Dabei können regionale Schwerpunkte der in Mengelsdorf begrabenen Opfer – oft aus den allerletzten Kriegstagen – etwa in der Pfalz, im Rheinland oder in Österreich ausgemacht werden.
Zum Volkstrauertag hofft Krystian Burczek, dass weitere Menschen den Tod durch Krieg, die Aufarbeitung, oft auch die familiäre Betroffenheit an sich heranlassen. In der Einsamkeit der kleinen Grabstätte von nur etwa zwei Dutzend Gräbern könne jeder das auf sich wirken lassen, ohne von einer riesigen Anlage wie im oberschlesischen Laurahütte erschlagen zu werden. Die Gräber finden sich westlich des Schlosses. Krystian Burczek schaut über seine Harke und sagt kurz vor dem Abschied: „Am liebsten würde ich selbst einmal hier bestattet werden, im ruhigen Wald, wo ich all den jungen Opfern immer so nahe bin.“