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Kohlemillionen: Tram in Görlitz statt Wirtschaft an der Grube

Kohlemillionen: Tram in Görlitz statt Wirtschaft an der Grube

Ralf Brehmer in seinem Amtszimmer. Der Rietschener Bürgermeister ist mit Kollegen aus dem Nordkreis mit der Politik um die Strukturgelder hart ins Gericht gegangen. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Elf Bürgermeister aus der Niederschlesischen Oberlausitz haben angemahnt, dass die Strukturmittel nicht an der vom Ausstieg aus der Kohle „kernbetroffenen“ Gemeinden vorbeifließen dürfen. Rietschens Bürgermeister Ralf Bremer erklärt im Niederschlesischen Kurier, wieso die Unzufriedenheit so groß geworden ist.

Rietschen. Elf Bürgermeister aus den unmittelbaren Anrainergemeinden des Tagebaus haben bei einer Pressekonferenz im Trebendorfer Ortsteil Mühlrose am 5. November ordentlich Dampf abgelassen und zugleich konkrete Forderungen aufgestellt. Hintergrund war, dass sie bei der zweiten Sitzung des Regionalen Begleitausschusses, der über die Verteilung der von der Bundesregierung bewilligten Kohlemillionen entscheidet, zwei Tage zuvor wieder leer ausgegangen waren. Zu den elf Bürgermeistern der „kernbetroffenen“ Zone zählt auch Ralf Brehmer (SPD) aus Rietschen, der als Ausschussmitglied zugleich einräumt: „Es ist eigentlich wie im Bundestag. Die Entscheidungen werden vorher angebahnt, und so segnet auch der Begleitausschuss ja im Grunde nur schon vorgezeichnete Dinge ab.“

Dieses Mal so auch ein neues Freizeitbad in Kamenz und eine runderneuerte Straßenbahn in Görlitz. „Man darf auch nicht denken, dass immer alle Ausschussmitglieder jedem Vorhaben Ihre Zustimmung erteilen. Ich bin nur ein beratendes Mitglied für die LEADER-Regionen und damit so wie viele andere Vertreter der Zivilgesellschaft nicht stimmberechtigt“, gibt Brehmer zu bedenken.

Caren Ley, Bundestagsabgeordnete der Linken kommentierte gar mit Blick auf Bundes- und Landesprojekte: „Bundes- und Landesregierung haben den Start des Strukturwandels nach dem beschlossenen Kohleausstieg gründlich in den Sand gesetzt“ und FDP-Landtagsabgeordneter Torsten Herbst meinte: „Kaum Anreize für private Investoren, keine Impulse für Start-Ups und kaum Unterstützung für den Mittelstand – die milliardenschweren Hilfen des Bundes für die Lausitz gehen bisher am Ziel vorbei, Arbeitsplätze in der Wirtschaft zu schaffen.“ Ralf Brehmer sitzt als ausgeglichener Mensch beim Besuch des Niederschlesischen Kuriers am Montag jedoch entspannt auf seinem Stuhl.

Große Emotionen sind nicht seine Welt, er wählt die Worte mit Bedacht und sagt: „Wir gönnen allen Görlitzern ihre Straßenbahn und wenn sie der Meinung sind, dass es toll ist, in Zukunft lieber mit Wasserstoff als mit Strom zu fahren – was aus meiner Kenntnis wesentlich teurer wäre – auch gut. Das Problem ist aber, dass sie von dem Gesamtgeld 60,9 Mio. abgreifen wollen. Und damit ist ein großer Teil des Geldes, das bis 2026 zur Verfügung gestanden hätte, in diesem Projekt gebunden und somit für andere Projekte verloren.“ Es sei ja nicht ursprüngliches Ansinnen gewesen, Geld bis Zittau oder Oybin zu verteilen. „Als Bürgermeister sind wir aber im Rahmen des entstandenen Gesetzes durchaus solidarisch und können anderen Projekte gönnen“, betont er, „finanzielle Nöte hat ja nicht nur der Norden. Dass man als Verteilungsebene aber die Landkreise genommen hat, schafft Unzufriedenheit. Erklären Sie mal dem Bergmann die Förderung der Straßenbahn in Görlitz.“ Nun seien aktuell 120 Millionen Euro verteilt, doch keiner wisse genau wie viel, weil in den Projekten auch mit Schätzungen hantiert werde. Und: Es gäbe kommunale und Landesprojekte. „Für Landesprojekte sollten unserer Auffassung nur 25 Prozent zur Verfügung stehen. Da wird eine Feuerwehrschule gefördert, da soll eine Landesuntersuchungsanstalt von Dresden nach Bischofswerda für 165 Millionen Euro umziehen, womit auch nur Arbeitsplätze verlagert werden. Auch dieses Geld muss bis 2026 ausgegeben worden sein. Nebenbei bemerkt, genau das wird stark bezweifelt“, merkt Ralf Brehmer an.

Alternativer Text Infobild

Die Sprecher der „Lausitzrunde“ Torsten Pötzsch (OB Weißwasser) und Christine Herntier (Bürgermeisterin von Spremberg) unterzeichneten dieser Tage einen Offenen Brief an die sich bildende Bundesregierung, in der eine stärkere Berücksichtigung der kernbetroffenen Gemeinden angemahnt wird. Foto: Jörg Tudyka

Sein zweiter Strukturwandel

Vielleicht hat seine Ruhe, während er dies berichtet, etwas mit den Erfahrungen der Dauer von Prozessen zu tun. Einen Strukturwandel mit Energiewende hat er bereits hinter sich. Brehmer absolvierte eine Ausbildung zum Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechniker im Kernkraftwerk Greifswald, um in seiner Heimat, der Altmark, im KKW Stendal zu arbeiten. Doch auch im Zeichen von Tschernobyl ging Stendal nie ans Netz. „Ein Studium in Senftenberg stand in Aussicht“, erinnert er sich und letztlich habe er sich in der Lausitz in der Verwaltung wiedergefunden. Draußen ist es bereits dunkel, er zeigt Balken auf einer Handyapp: „Sehen Sie, der Strom, der jetzt gerade verbraucht wird, stammt zum Großteil aus der Kohle, weil jetzt die Sonnenkollektoren und Windräder nichts liefern.“ Und so ist seine Anmerkung sicher skeptisch zu verstehen: „2038 schalten wir das letztgebaute modernste Kohlekraftwerk aus – zufällig wird das wahrscheinlich der Block R in Boxberg sein.“

Eine Statistik, wie viele Menschen seiner Gemeinde im Tagebau arbeiten, hätte er jedoch nicht. „Mein Kollege in Schleife hat gesagt, bei ihm wären es 14 Prozent“, kann Ralf Brehmer jedoch eine Orientierung liefern. Ein Großteil des Tagebaus Reichwalde befinde sich ja in Rietschener Gemarkung „und zwar sogar der aktive Teil“, wobei in Boxberg wegen des Kraftwerkes die „Kernbetroffenheit“ sicher noch einmal höher sei. „Wenn man dort nicht aufpasst, droht dort neben dem Strukturwandel auch eine Industrieruine“, denkt Ralf Brehmer vor und weist darauf hin, dass es in Rietschen Mitarbeiter der Werksfeuerwehr oder Baggerbesatzung gebe. Auch Stahlbauzulieferteile kämen beispielsweise aus seiner Gemeinde.

Gewerbegebiet ohne Förderhilfen

Es gebe viele Dinge, „wo wir gerne mit Görlitz oder Zittau zusammenarbeiten möchten.“ Neben der Kooperation mit der Hochschule gehe es für Rietschen aber vor allem um die Entwicklung im Ort. 55 Hektar zwischen Rietschen und Teicha werden seit zwei Jahrzehnten als Gewerbegebiet ins Auge gefasst und Flächen dafür zusammengekauft. „Dafür müssen wir einen Bebauungsplan erstellen. Ein Planverfahren kostet 100.000 Euro. Hinzu kommt ein Gutachten wegen des Eingriffes in Natur und Landschaft. Man muss jede betroffene Tierart dabei begutachten, um ein neues Habitat zu schaffen. Die Summe der Gutachten dafür werde noch einmal circa 100.000 Euro kosten. Gerade solche Ausgaben sind leider bisher nicht förderfähig.“ Welcher Kostenvergleich zu einer Straßenbahn in Görlitz oder einem Bad in Kamenz, möchte man meinen! Die Bürgermeister des Nordens verlangen neben der Quote für Landesprojekte so übrigens auch, langwierige und aufwendige Planungsverfahren zu vereinfachen, so dass kleine Gemeinden mit ehrenamtlichen Bürgermeistern überhaupt mit im Spiel sein können.

Immerhin könnte gegenüber des Kinos in Rietschen in einem leerstehenden Objekt eine Umgebung für junge Selbstständige geschaffen werden, die zum Beispiel vorwiegend in der digitalen Welt unterwegs sind. „Auf Neudeutsch heißt das: „Coworking Space”. Aber schreiben Sie das besser nicht, da weiß nicht sofort jeder, was das sein soll“, ergänzt der Bürgermeister schmunzelnd. Dass der Wandel für jeden einzelnen komme wüsste jeder; hier gehe es aber um die Sorge für kommende Generationen. Die Gemeinde selbst könne ja nur Arbeitsplätze in Verwaltung, Kindergarten, Hort oder Bauhof anbieten.

Die Sorge um die Region hatte Brehmer zuletzt auch im Bundestagswahlkampf Gegenwind aus seiner Partei eingebracht, da der Sozialdemokrat eine taktische Wahl von Florian Oest (CDU) für sich entschieden hatte und das auch öffentlich verkündete. „Als Bürgermeister muss man auch über Parteigrenzen hinausdenken.“

Bei der Frage, ob er denn von Zeit zu Zeit Tino Chrupalla anrufe, bleibt er beim Schmunzeln. „Wir hatten bis jetzt immer gute Ansprechpartner in Berlin mit Thomas Jurk und mit Michael Kretschmer. Bei diesen Beziehungen nach Berlin geht es oft darum, für konkrete Projekte Fördermittel zu bekommen. Der jetzige Wahl-kreissieger hatte erklärt, dass er das nicht als seine Aufgabe sehe. Als Opposition ist es zwar schwieriger Netzwerke zu bilden, aber Thomas Jurk hatte das auch von der Oppositionsbank aus gut im Griff.“

„Illegale“ Schulbushilfe

Dass der Weg nach Berlin mit dem Bahnausbau immerhin einfacher wird, begrüßt er. „Beim Gewerbegebiet planen wir natürlich mit einem Gleisanschluss. Ziel muss es sein, viele Güter auf die Schiene zu bekommen.“ In erster Linie gehe es jedoch um den Personenverkehr. „Vor fünf Jahren wurde ich immer verlacht, wenn ich betont habe, dass wir einen Anschluss zum neuen Berliner Flughafen haben sollten. Es gehe eben nicht allein um Geschäftsreisende oder Arbeitsplätze dort, sondern im Gegenzug auch um Touristen und überhaupt die Lebensqualität der Region. In 1 1/2 Stunden von Rietschen auf dem Alex zu sein, das ist schon etwas. Tesla oder ein Universitätsklinikum in Cottbus weisen auch gen Norden“, meint er. Und so solle man sich auch in Ruhe Potenziale einer Bahnteststrecke Tetis ansehen. „Bevor die Idee richtig ausgesprochen ist, gibt es aber bereits viele Bedenkenträger“, stellt er fest.

Beim Abschied geht es dann noch an Buslinienskizzen der Gemeinde vorbei und Ralf Brehmer bekennt zum Dilemma um „Gut vernetz“ und die immensen Probleme bei der Planung der künftigen Schulbusverbindungen: „Ja auch ich habe quasi illegal Infos über die Planungen an Eltern und Elternvertreter weitergegeben. Aber ich fand das unheimlich wichtig, weil das so eine komplexe Sache ist, bei der es Bürgerbeteiligung einfach braucht. Eltern haben nicht immer und überall recht – da ist auch sehr viel Prosa dabei. Aber die Angelegenheit ist so schwierig, dass schon ein Bürgermeister die Sache kaum überblicken kann“, meint er. Nur ein Zusammenspiel aller könne dann helfen.

Einen solchen Gemeinsinn gebe es ja letztlich auch beim Bau des neuen Landratsamtes in Görlitz, in dessen Arbeitsgruppe zum Bau Brehmer ebenfalls vertreten ist. Auch dieser Bau wird mit Strukturmitteln unterstützt. „Davon profitiert der ganze Kreis aber besonders natürlich auch die Stadtentwicklung von Görlitz“. Und geografisch darüber hinaus gedacht gelte ja ohnehin: „Es gibt auch im Südkreis gut angelegtes Strukturmittel-Geld, wichtig ist aber die Quote zwischen kommunalen und Landesprojekten“, so Ralf Brehmer.

Till Scholtz-Knobloch / 14.11.2021

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