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Auch Enkel sind noch immer auf der Flucht

Auch Enkel sind noch immer auf der Flucht

Die Berliner Traumatherapeutin mit Praxis in Falkensee, Dr. Sabine Schröder, bei einem Besuch vor dem im letzten Jahr eröffneten Hospiz in Niesky. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Ende vergangenen Jahres wurde das Hospiz der Diakonissenanstalt Emmaus in Niesky eröffnet. Seelische Belastungen am Ende eines Lebens, die oft auch aus dem Krieg und unverarbeitetem Leid herrühren, werden jedoch auch ambulant begleitet. Dr. Sabine Schröder, eine der ersten Referentinnen gab dem Niederschlesischen Kurier Auskunft, warum an solchen Belastungen auch die nachfolgenden Generationen leiden und was dies für die Hospizarbeit auch in der Zukunft bedeutet.

Niesky. „Wir merken bei unserer Begleitung, dass es eine ganze Menge Dinge aufzuarbeiten gibt, die letztlich Ausfluss des Krieges sind“, betont Margit Nedo vom Ambulanten Hospizdienst in Niesky und formuliert 75 Jahre nach Kriegsende etwas, was die Erfahrungen einer scheidenden Generation ausmacht – aber auch bei Nachgeborenen Nachwirkungen zeigt. Buch-Bestseller von Sabine Bode führten das Thema von „Kriegsenkeln“ in die Öffentlichkeit und auch Prominente bekannten die Triebkraft solcher Nachwirkungen für ihre künstlerische Arbeit. Der Sänger Heinz-Rudolf Kunze bekennt, daheim häufig den Satz gehört zu haben: „Das war in der Heimat so“; ihm sei das Gefühl anerzogen worden, die Heimat, das ist nicht hier um Dich herum, sondern die Ferne, die die Eltern verlassen mussten.

Die Unfähigkeit den Verlust zu betrauern, die die Psychoanalytiker Margarethe und Alexander Mitscherlich bereits in den 60er Jahren bei den Deutschen diagnostizierten, das heißt, ihre Unfähigkeit, kollektiv Trauerarbeit zu leisten, um Schuld wie auch Leid verarbeiten zu können – zeigt sich bis heute jedoch nicht allein öffentlich, sondern scheint ein Spiegelbild einer Unzahl individueller Erfahrungen zu sein.Und am Sterbebett brechen dann häufig die Unausgesprochenen Dinge durch, die doch noch auszusprechen waren.

Dr. Sabine Schröder sieht als Traumatherapeutin einen Dominoeffekt von Traumaerfahrungen über die Generationen: „Ein Säugling entscheidet nicht, aber er denkt und bekommt alle Stimmungen mit und er fühlt sich für Stimmungen zuständig“. Die Taubheit des Verdrängens bricht sich später Bahn: „Ich fühle etwas, was eigentlich meine Mutter hätte fühlen müssen“. Dies sei eine gängige Reaktion, die auch Triebkraft ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Kriegsleid und Vertreibungserfahrungen gewesen sei.

Nach ihrer Auffassung ließen sich vererbte Generationserfahrungen wie folgt gliedern. Es gäbe die eigentlichen Nachkriegskinder der Jahrgänge 1945 bis 1960, über die sich trotz zeitlicher Nähe der elterlichen Erfahrungen der Nebel der Vergangenheit gelegt hätte. Dies habe im eigenen Leben häufig eine Orientierungslosigkeit ausgelöst sowie die Strategie stellvertretend Schuld übernehmen zu müssen, die Last zu spüren, Hoffnungsträger sein zu müssen. Diese Strategien wiederum hätten sich auf die Kriegsenkel, die zwischen 1960 und 1975 geborenen ebenso ausgewirkt. Im Westen sei der Krieg unter ihnen „in Zahlen“ verarbeitet worden, aber nicht wirklich emotional aufgearbeitet, im Osten wirkte die staatliche Strategie nach, die Last des Krieges dem Westen zuzuschieben.

Gemeinsam sei beiden die Haltung, die Eltern in ihrer ererbten seelischen Verschlossenheit aus der Traumaerfahrung retten zu wollen, weil man sich für ihre Emotionen zuständig fühle. „Das Wort retten, fällt auffälligerweise in Therapiegesprächen immer wieder bei Vertretern dieser Generation“, sagt Dr. Schröder.

Das familiär nicht Aufgearbeitete habe bei ganz vielen die Folge gehabt sich im übertragenen Sinn ständig auf der Flucht zu fühlen – heimatlos zu sein und zur Haltung beigetragen „sich überall in der Welt zu Hause fühlen“, oder anders gesagt: nirgends.

„’Ich gehöre nicht hierhin.’ – Mit diesen Worten beschreibt eine Lehrerin ihre Beziehung zum eigenen Wohnort, an dem sie immerhin seit 40 Jahren lebt und seit 30 Jahren auch unterrichtet“, nennt die Traumatherapeutin ein praktisches Beispiel. Die Eltern der heute 58-Jährigen stammten aus der Neumark, die heute zu Polen gehört. Um ihre innere Distanz auszudrücken, bezeichnet sie sich als eine „in Thüringen geborene Preußin“.

Ein Teilnehmer der Kriegsenkel-Befragung bei forumkriegsenkel.de, einer interaktiven Internetplattform für Betroffene, beschrieb pointiert, er empfinde sein Leben und vieles, was er tue, entscheide oder was ihm widerfährt, buchstäblich als ‚verrückt’. Verrückt? Er analysiert: „Natürlich bin ich ‚verrückt’, denn ich stamme ja aus einer ‚verrückten’ Familie, nämlich einer Familie, die am Ende des Krieges weggerückt worden ist von alldem, was Heimat, Geborgenheit, Zukunftsgewissheit, Vertrauen und Stabilität bedeutet – aus einer Vertriebenenfamilie also!“ Bei etwa 15 Millionen Vertriebenen, die natürlich nicht nur untereinander heirateten, ist heute nach mehreren Generationen die Mehrheit der Deutschen Nachkommen von Vertriebenen und oft auch Teil des Phänomens nicht angekommen zu sein.

Aber auch viele andere, weit verbreitete gesellschaftliche Phänomene seien auf ein familiäres Nichtverarbeiten zurückzuführen, führt Dr. Schröder aus: Eine Erziehung zum androgynem Neutrum oder die Haltung unermüdlich arbeiten zu müssen. Andere hätten in ihrem Verantwortungsgefühl für das Wohl der Eltern nicht die Fähigkeit entwickelt, es sich selbst gut gehen zu lassen. Und auch die ererbte traumatische Haltung, etwas einfach nicht festhalten zu können, habe entscheidend zur Angst vor jeder partnerschaftlichen Bindung beigetragen.
In der Therapie müsse man daher die Frage stellen: Willst Du gesund werden? Was passt nicht in meine Biografie?

Jennifer Teege, eine Deutsch-Nigerianerin, hat zur Frankfurter Buchmesse ein Buch vorgestellt, indem sie sich mit ihrem Großvater auseinandersetzt, dem brutalen KZ-Kommandanten Amon Göth. Göth war ein Massenmörder, der auch im Film Schindlers Liste vorkommt. „Amon“ heißt auch ihr Buch und trägt den viel sagenden Untertitel: „Mein Großvater hätte mich erschossen“. Ihr haben sich die Zusammenhänge und Abgründe der eigenen Familiengeschichte nur durch einen Zufall erschlossen. Sie waren ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Indem sie sich ihrer Geschichte stellte, brachte sie ans Licht, was jahrzehntelang verborgen war und fand gleichzeitig den Schlüssel zum Verständnis ihrer Depression. Es geht letztlich um ein Spiegelbild der eigenen familiengeschichtlichen Abgründe.

Die persönliche Auseinandersetzung mit Opfer- wie auch mit den Täteraspekten der eigenen Familiengeschichte und deren Schattenwurf im eigenen Leben führt nicht nur dazu, sich von diesen Kräften allmählich zu befreien.

„Diese Arbeit verhindert auch, dass alte Ressentiments wieder hochkommen und gefährlich werden. Indem sie Verdrängtes ans Licht holt und transformiert, leistet die Kriegsenkel-Bewegung heute einen Beitrag gegenseitigen Verständisses“, meint Dr. Schröder.
 

Till Scholtz-Knobloch / 30.06.2020

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