Fake mit Wahrheitsoption? Eine Postwurfsendung vewirrt

Jörg Bergstedt (rechts) und Mistreiter beteiligten sich am Montag auf der Demo vor dem und vom Postplatz, am Dienstag betreute er einen Infostand auf dem Marienplatz. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Görlitz. Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten haben beim Gipfel in Den Haag einen bislang beispiellosen Anstieg der Verteidigungsausgaben beschlossen. Ab spätestens 2035 sollen die Mitgliedstaaten jährlich fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung und sicherheitsrelevante Bereiche investieren. Davon entfallen 3,5 Prozent direkt auf militärische Ausgaben, weitere 1,5 Prozent auf Infrastruktur mit Verteidigungsbezug. Die Entscheidung markiert einen deutlichen Schritt über bisherige Selbstverpflichtungen hinaus und bedeutet eine grundlegende Neujustierung der Prioritäten im Bündnis. Während die indirekten Ausgaben bislang nicht hochgerechnet wurden, liegt der Anteil der offen ausgewiesenen militärischen Ausgaben gegenüber dem Ziel von 3,5 Prozent derzeit bei etwa 2,4 Prozent, 2020 betrug er noch etwa 1,32 Prozent, 2015 circa 1,06 Prozent!
Vor dem Hintergrund der vorherigen Debatte um solche riesigen Sprünge schienen manche Formulierungen vielen Lesern glaubhaft, die eine Postwurfsendung vergangenes Wochenende in Görlitzer Haushalte lieferte. Darin stellte sich vermeintlich Waffenproduzent KNDS, der seit Februar und bis 2026 den Waggonbau Görlitz übernimmt, den Görlitzern vor – auch mit einem QR-Code, über den man zu freien Stellen bei KNDS gelangte.
Neben hochwertigem Papier, Mehrfarbendruck und sauberer Faltung griffen viele Formulierungen Geahntes in für Wirtschaftsunternehmen typischen PR-Formulierungen auf. Vor diesem Hintergrund wurden in dem langen Text einzelne Überzeichnungen von vielen als glaubhaft aufgenommen. Im Zeichen von Formulierungen wie: „Hier werden die besten Kampfpanzer der Welt gebaut“ oder „Der Waggonbau hat Görlitz zu einem globalen Standort in der Metallbranche gemacht. Unsere Mission ist es, Görlitz zu einem internationalen Zentrum einer innovativen, nachhaltigen Rüstungsindustrie zu machen. Für die Sicherheit Deutschlands und eine echte Festung Europa“, fragte die Redaktion Montagfrüh bei KNDS nach der Echtheit des Papiers nach.
Diese wurde zunächst telefonisch aus München verneint, doch schien die Kenntnis ganz frisch, so dass auch Fragen zum Kenntnisstand der Redaktion gestellt wurden, die etwa berichten konnte, dass Flugblätter auch in der historischen Innenstadt dort verteilt wurden, wo sich die Austräger erst zu Briefkastenanlagen in Treppenhäusern bewegen mussten, also zunächst wohl vor verschlossener Tür standen. Für die KNDS-Pressestelle gab Christian Budde am Nachmittag dann aus Berlin die schriftliche Antwort: „Es handelt sich um eine Fälschung und gibt auch inhaltlich in keiner Weise die Auffassung von KNDS wider. Wir behalten uns diesbezüglich die Einleitung rechtlicher Schritte vor.“ Dazu ist es dann später auch gekommen, denn zwei Tage darauf, am Mittwoch, vermeldete die Sächsische Zeitung, dass KNDS ihr gegenüber mitgeteilt habe, Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet zu haben.
CO²-arme Panzer
Just diesen Montag beteuerte der aus Hessen stammende Jörg Bergstedt, der bisherige Proteste in Görlitz gegen KNDS mitgetragen hatte, dass er gerade durch unsere Redaktion von der Aktion erfahren habe. Er führte mit Mitstreitern ein Plakat bei der Montagsdemonstration mit. Am Dienstag hatte Bergstedt dann eine achtseitige „Aktions-Zeitung“ auf dem Marienplatz verteilt, die auf der Titelseite mit „Straßenbahn statt Panzer. Tod oder Leben, wofür arbeiten wir?“ aufgemacht war. Der Redaktion erklärte er dort noch einmal: „Uns geht es auch um eine bessere Verkehrspolitik.“
Während der Urheber des gefakten Flugblatts hingegen noch unbekannt ist, war in diesem der Protest gegen KNDS deutlich eingearbeitet. „Vieles weist darauf hin, dass hier Ideologen und Gruppen am Werk sind, die den Wert unserer demokratischen Gesellschaft und unseres liberalen Wirtschaftens nicht wertschätzen, während sie gleichzeitig die Gefahren durch feindselige Staaten ignorieren. Das Europa der westlichen Wertegemeinschaft hat eine lange Grenze zur russischen Einflusszone. Diese zu sichern, braucht starke Armeen mit schlagkräftiger Bewaffnung“, war in der Fälschung zu lesen.
Die starke Akzentuierung der Vorwärtsverteidigung indes dürfte seitens des oder der unbekannten Autoren des Fake-flugblatts das geplante Tor dafür gewesen zu sein, über den Impuls ’Das kann man mittlerweile nicht mehr ausschließen’ eine Ablehnung gegenüber KNDS zu stärken. Und so erübrigten sich letztlich auch Anschlussfragen des Niederschlesischen Kuriers an KNDS für den theoretischen Fall der Authentizität – im Hinblick auf im Faketext postulierten Anstrengungen zur Reduzierung des CO²-Ausstosses, die im Kontext der Produktion und des später möglichen Einsatzes von Panzern schon bizarre Züge tragen würden. Aber solche Zusammenhänge schleichen sich ja eben auch in tatsächliche Berichterstattungen in heutiger Zeit zunehmend ein – hiermit spielte der Fake-Autor.
Jörg Bergstedt zog jedenfalls nach Bautzen weiter. Er berichtete dem Autor dieser Zeilen, dass er dort am Mittwoch einen Workshop zur Durchführung von Aktionen führe. Denn mit geschriebenen Zeilen ließen sich ja ohnehin viele Menschen gar nicht mobilisieren.