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Schwierig, aus Jacob Böhme ’Fremdes’ zu schöpfen

Schwierig, aus Jacob Böhme ’Fremdes’ zu schöpfen

Piotr Arcimowiczs (links) und Dr. Lukasz Tekiela stehen vor der Aufgabe, einen deutschen Denker in seinem historischen Wortschatz Polen in der Region heute näherzubringen. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Geburtshaus und Wirkungsstätte Jacob Böhmes liegen auf polnischer Seite. Was bringt das heute mit sich? Fragen dazu stellte der Niederschlesische Kurier bei der Auftaktpressekonferenz zum Böhme-Jubiläumsjahr mit über 60 Veranstaltungen.

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Bei Agnieszka Roczon im Rathaus von Seidenberg hängt ein Bild Jacob Böhmes an der Pinnwand. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Görlitz. Im 400. Todesjahr Jacob Böhmes wird es auf beiden Seiten der Neiße über 60 Veranstaltungen geben, die an Jacob Böhme erinnern. Die lange Terminliste zum größten Sohn der Stadt, die der Niederschlesischen Kurier 2024 sicher noch häufig in der Berichterstattung aufgreifen wird, wurde beim Ideenfluss e.V. zusammengeführt. „Wir möchten die Aktualität Böhmes in unseren Vorträgen und Ausstellungen sichtbar machen, zeigen, dass er uns heute noch etwas zu sagen hat, obwohl er vor 400 Jahren gestorben ist. Hatte er doch viele Künstler, Dichter und Denker wie Goethe oder Adam Mickiewicz beeinflusst“, stellte Birgit Beltle für den Verein am 14. März bei der Auftaktpressekonferenz zum Jubiläumsjahr fest. „Wir werden auch ganz unerwartet Böhmes Texte an Hauswänden oder im Internet sichtbar machen, damit man versteht, dass es auch eine sehr schöne, bildhafte, barocke Sprache ist, die den Zugang zum Herzen finden kann, wenn es ausgesuchte Sätze sind“, sagt sie und präsentiert an diesem Tag auch die ansprechende Internetseite, auf der alles im Jubiläumsjahr zusammengefasst, die aber im Namen www.kulturerbeforum.de kurioserweise Böhme namentlich nicht aufgreift.

Geboren in Alt Seidenberg (polnisch: Stary Zawidow), gestorben genau vor 400 Jahren in Görlitz, tauschte der gelernte Schumacher Jacob Böhme (1575-1624) seine Leisten im heutigen „Jacob-Böhme-Haus“ am polnischen Neißeufer gegen die Schreibfeder aus. Hier wirkte er 1590 bis 1610.

Hegel bezeichnete den Mystiker und Theosophen Böhme als den ersten deutschen Philosophen, weil er als erster seine Gedanken in Deutsch und nicht wie andere bislang in Latein verfasste. Auf polnischer Seite wird ihm mit einem Denkmal in Form eines offenen Buches geehrt, auf dem ein Paar Stiefel stehen sowie mit einem Kreisel, den jeder Autofahrer kennt.
Trotzdem sei den polnischen Einwohnern das Wissen um den Philosophen nur marginal bekannt, so Piotr Arcimowicz, Leiter des Lausitzmuseums, das neben dem eingangs beschriebenen Böhme-Haus am Neißeufer angesiedelt ist

„Böhme-Forschungen gibt es bei uns erst seit den Neunzigerjahren, als sich der (AdR: polnische) Jacob-Böhme-Verein gründete“, sagt er. „Damals hatte es einen Böhmediskurs in unserer Stadtgesellschaft gegeben. Doch mit der Auflösung des Böhme-Vereins schwächte der Diskurs ab. Wir vom Museum pflegen Kontakte zu Wissenschaftlern, die Böhme erforschen, aber es ist sehr hermetisch. Böhme ist eher unbekannt, selbst unter Menschen, die sich sonst mit Philosophie befassen“, sagt er. Auch würde man in den polnischen Schulen über Böhme kaum etwas lernen, denn „das Thema Böhme ist eine schwere Materie, die sich nicht leicht ins Schulprogramm integrieren lässt“, bedauert er.

Arcimowiczs Kollege, Dr. Lukasz Tekiela, Museumsleiter in Lauban (Luban), findet noch weitere Gründe für das mangelnde Wissen um Böhme jenseits der Neiße: „Die regionale Identität ist bei uns noch nicht ausgereift. Wir sind erst relativ kurz hier und können noch nicht aus der immer noch fremden historischen Tradition schöpfen und das Beste, was sie zu bieten hat, in unsere noch junge Identität adaptieren. Wir sind immer noch dabei unsere eigene Identität zu bauen. Auch die Identität unserer Leader und Kulturschaffenden ist noch nicht stark genug, um Themen wie die Gedankenwelt Böhmes zu behandeln“, sagt Tekiela.
 
Die in Böhmes Geburtsort für Stadtmarketing und Öffentlichkeitsarbeit zuständige Mitarbeiterin Agnieszka Roczon war am Tag der Pressekonferenz verhindert, stellt sich im Rathaus von Seidenberg aber den anstehenden Aufgaben. Es gibt im Ort eine Informationstafel am nur noch übrig gebliebenen Turm der protestantischen Kirche. Hier war Böhmes Vater Kirchdiener. „Wir wissen natürlich, dass Böhme für die Vermarktung unserer Stadt eine Chance darstellt“, sagt Roczon für die Stadt, die nur kurz südlich von Görlitz unmittelbar an der Grenze zu Tschechien vom Durchgangsverkehr geprägt ist. Hinderlich dabei ist, dass der einsam verbliebene Kirchturm wie auch der jüngst renovierte Markplatz etwas abseits der Hauptverkehrsstraße liegen. Wer aussteigt, geht nicht wenigen Schritte hierher, sondern eher zum Geldwechsel. Immerhin sammelt der Verband der Freunde von Seidenberg (Stowarzyszenie Milosnikow Zawidowa) Andenken an den Mystiker für eine Gedenkstube. 

Insgesamt sticht unter den über 60 Veranstaltungen in der Region eine besonders hervor. In der Vortragsreihe „Böhme für alle“, werden von September bis April 2025 zwölf Kenner der Schriften Jacob Böhmes den Versuch starten, seine Gedankenwelt so klar wie möglich allen zu vermitteln. Ein wagemutiges Unterfangen, sagt der Laubaner Lukasz Tekiela. „Böhme wird durch eine akademische Sichtweise vereinnahmt, die die Quintessenz seiner Gedankenwelt verkopfen“, bemängelt er. Das Beste in Böhmes Philosophie sei sein tiefer Optimismus und „wenn man darüber sprechen möchte, müsste man die Menschen evangelisieren. Dies wäre ein gigantisches Risiko, denn Böhmes Gedanken sind konträr zu der ‚einzig richtigen Strömung‘ in der Wahrnehmung Gottes und seiner Beziehung zum Menschen“, scheint Tekiela hier besonders an die katholische Dominanz seines Landes zu denken. „In der Konsequenz könnte es zum gleichen Konflikt kommen, den Böhme zu Lebzeiten mit dem Görlitzer Pastor hatte“, so der Chef des Laubaner Museums. Ähnlich sieht es Klaus Weingarten vom Jacob-Böhme-Bund. „Der Mensch ist viel weiter von Böhme entfernt, als er es vor 400 Jahren war. Ich glaube, dass der Gedanke, Böhme allen präsentieren zu können, völlig unmöglich ist. Es gibt nur ganz wenige, die dafür aufnahmebereit sind“, so Weingarten, der 2015 den Film „Morgenröte im Aufgang – Hommage an Jacob Böhme“ schuf, in dem er ausschließlich die 400 Jahre alten Originaltexte Jacob Böhmes verwendete.

Ideenfluss-Chefin Birgit Beltle ist jedoch guter Dinge. Sie hatte mit Freunden in Görlitz einen Philosophiekreis gegründet und lässt seit vielen Jahren „im Bahnhof Jacob Böhme fußläufig in die Menschen hineinwirken“, wie sie sich ausdrückt. Neben einem Kolloquium zum Spätwerk Böhmes „Mysterium Magnum“, der Aufführung einer Auftragskomposition der Internationalen Böhme-Gesellschaft mit dem Titel „…wohlgestimmte gebärende Harmoney – Annäherung an Jacob Böhme“ oder einer Reihe von Rock-Konzerten, stehen auch Veranstaltungen für Jugendliche und Kinder auf beiden Seiten der Neiße auf dem Programm. 

Klaudia Kandzia/Till Scholtz-Knobloch / 24.03.2024

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Kommentare zum Artikel "Schwierig, aus Jacob Böhme ’Fremdes’ zu schöpfen"

Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

  1. Thomas Isermann schrieb am

    Lieber Herr Scholtz-Knobloch,

    Ihre Ausführungen zu Ihren journalistischen Möglichkeiten finde ich plausibel, und ich entschuldige mich für unrichtige Einschätzungen zu Ihrer Arbeit.

    Aber das macht andere Dinge nur noch schlimmer. Wenn also 12 Gäste der Stadt Görlitz ohne weiteres als "verkopft" dargestellt werden, egal von wem übersetzt, egal wie tolerant die Goldwaage geeicht ist, auf die man solche Worte nicht legen sollte, dann muss uns allen zu denken geben, was hier passiert.

    Wenn jemand auf einer Pressekonferenz sagen darf: "Böhmes Gedanken sind konträr zu der ‚einzig richtigen Strömung‘ in der Wahrnehmung Gottes und seiner Beziehung zum Menschen“, dann lässt das Wort vom "einzig Richtigen" den Eindruck von emotionaler Intoleranz zurück.

    Bevor auch nur einer der geplanten Vorträge gehalten ist, wird Klaus Weingarten, den ich sehr schätze, so zitiert: "Ich glaube, dass der Gedanke, Böhme allen präsentieren zu können, völlig unmöglich ist." Wie wahr! Aber das sagt ja auch keiner. Von einem Philosophen ist nie "allen" oder alles zu aktualisieren. Aber man muss doch erst einmal alles oder so viel wie möglich zeigen, was die Leser oder Hörer davon nehmen, ist doch dann ganz ihnen überlassen.

    Ich wünsche Ihnen und allen Lesern ein geruhsames Osterfest.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Thomas Isermann

  2. Thomas Isermann schrieb am

    Richtigstellungen

    der obige Artikel ist schlecht recherchiert:
    1.) Goethe ist so gut wie gar nicht von Böhme beeinflusst. Dafür gibt es keinen Beweis.
    2.) die Aussage, unter www.kulturerbeforum.de werde "alles im Jubiläumsjahr zusammengefasst", ist unrichtig. Richtig ist vielmehr, dass unter dieser Domain nur sehr wenige der am "runden Tisch" beteiligten Initiativen präsentiert sind.
    3.) In Ihrem artikel wird Lukasz Tekiela folgendermaßen zitiert:
    "In der Vortragsreihe „Böhme für alle“, werden von September bis April 2025 zwölf Kenner der Schriften Jacob Böhmes den Versuch starten, seine Gedankenwelt so klar wie möglich allen zu vermitteln. Ein wagemutiges Unterfangen, sagt der Laubaner Lukasz Tekiela. „Böhme wird durch eine akademische Sichtweise vereinnahmt, die die Quintessenz seiner Gedankenwelt verkopfen“, bemängelt er."
    Damit legt er nahe, unsere 12 Referenten seien "verkopft". Er hat ich nicht mit der Sachlage beschäftigt, sonst würde er nicht solche Assoziationen nahelegen. Unter
    https://www.jacob-boehme.org/Jacob-Boehme-fuer-Alle.html
    werden alle 12 Referenten aufgeführt, es geht daraus hervor, dass es sich um qualifizierte Praktiker handelt. Den Vorwurf der Verkopfung weise ich entschieden zurück.

    weiteres unter www.jacob-boehme.org

    Ich bitte um Beachtung und Veröffentlichung

    Thomas Isermann
    Internationale Jacob Böhme Gesellschadt e.V.

    Kommentar der Redaktion:

    Die Redaktion versteht die "Richtigstellungen" als Teil eines historischen Diskurses, denn Wissenschaft und Journalismus unterscheiden sich deutlich.

    Der Text hat gerade einen eher hohen journalistischen Aufwand - also Recherche - durch das Einfangen vieler Meinungen von Beteiligten (eine ganze Reihe konnten im Umfang eines Zeitungstextes und der für diesen ausgewählten Fragestellung auch nicht mehr einfließen), gleich zwei Außentermine und zudem die Übersetzung der Meinungen aus dem Polnischen erfordert.

    Gerade für eine Anzeigenzeitung ist der Arbeits- und damit Rechercheaufwand eher außerordentlich hoch. Dr. Tekiela tut man nach Sicht der Redaktion auch Unrecht, seine Worte auf die Goldwaage zu legen, denn er tritt hier als allgemeiner Historiker für die Regionalgeschichte und nicht als Experte für Böhme in Erscheinung. Dabei ist auch zu bedenken, dass es das Wort "verkopft" in dieser Form in der polnischen Sprache nicht existiert und die Übersetzungswortwahl nur eine gewissenhafte Annäherung an eine Fremdsprache darstellen kann.

    Der veranstaltende Ideenfluss e.V. zeigte sich auf Nachfrage mit dem Text sehr zufrieden, fand die Fragestellung bereichernd und merkt an, dass eventuell derzeit noch fehlende Termine unter www.kulturerbeforum.de natürlich eingepflegt werden. Auch dies sei eben personellen Möglichkeiten in ehrenamtlichen Vorgehen geschuldet. Dass die Termine dort auch nur regionaler Natur sind, ergibt sich logisch aus dem Kontext.

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