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Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin!

Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin!

Hans-Joachim und Bozena Böhm sind ein oder zweimal die Woche in der Bahnhofshalle in Görlitz zu finden. Foto: Till Scholtz-Knobloch

„Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“. Diese Devise hat Hans-Joachim Böhm aus Görlitz ganz wörtlich genommen. Aus religiösen Gründen zog er den Weg in die Haft nach Bautzen dem Dienst an der Waffe vor und landete wie sein Vater im „Gelben Elend“.

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Ein ursprünglich aus Glogau stammender Leipziger im Gespräch mit Bozena und Hans-Joachim Böhm. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Görlitz. Hans-Joachim Böhm ist ein Mensch, den viele vom Sehen kennen. Mit seiner Frau Bozena steht er ein- oder zweimal die Woche mit einem Trolley in der Bahnhofshalle und freut sich auf biblische Gespräche, wie er sagt. Ein Leipziger Reisender zollt bei der Verabredung zum Foto seine Achtung vor dieser Beharrlichkeit und nutzt ein Gespräch mit Bozena Böhm dazu, einmal seine Liebe für das Land jenseits der Neiße zum Ausdruck zu bringen. Bis sein Zug fährt, geht es eigentlich nur darum, dass er als Deutscher aus Glogau (Glogow) stamme und mit Wehmut auf die im Krieg so verheerend zerstörte Stadt blicke.

Da ist er also gleich: Der Krieg als Urerfahrung, der Menschen in Zeiten eines für viele Jahrzehnte kaum für möglich gehaltenen Säbelrasselns heute wieder in die Glieder fährt. Für den nach dem Krieg geborenen Hans-Joachim Böhm ist der Krieg auch das, was ihn zu dem gemacht hat, was er ist. „Mein Vater war Soldat und freiwillig im Zweiten Weltkrieg, er hat den Frankreichfeldzug mitgemacht. Wie viele junge Kerle war er damals begeistert“, berichtet er, ehe sich der Tonfall ändert: „Und dann ging es an die Ostfront. Dort hat er seinen rechten Arm eingebüßt. Er hatte nur eine kleine Invalidenrente und dachte viel über sein Leben nach. ’Nie wieder‘ sagten damals auch die, die unverwundet waren“ – das sei damals die dominierende Haltung gewesen und „dann kam jemand an die Tür“. Rückblickend sagt Böhm als Zeuge Jehovas, er sei schon als Kind so geprägt worden, dass auch er diesen Weg aus Überzeugung mitging. Er lernte Werkzeugmechaniker im Nähmaschinenteilewerk. „Dort hatten wir einen Parteisekretär, der ein paar Mal zur Umerziehung mit mir sprach. Aber er war ein echter Mensch und hatte seinen Auftrag.“ Böhm blieb konsequent. Für ihn sei auch nicht in Frage gekommen, als sogenannter Spatensoldat, als Bausoldat einen Ersatzdienst zu leisten, weil auch dies von der Armee befehligt und finanziert wurde. „Das konnte ich als Christ nicht annehmen. 

Aber die, die diesen Weg gingen, hatten es auch nicht einfach“, meint er, der die Gewissensnöte vieler Glaubensbrüder und den Weg seines Vaters vor Augen hatte. 

Sein Vater hatte ab 1957 4 ½ Jahre wegen Predigen im berüchtigten Gelben Elend eingesessen. Als Boykotthetze gegen die DDR waren die Vorwürfe zusammengefasst. „Nach der Haft war er ein gebrochener Mann, obwohl er ja ohnehin schon ein Invalide war. Die Arbeit in der Wäscherei war körperlich gerade für ihn besonders schwer.“ Die Zeit im Gefängnis habe zudem mit einem halben Jahr Einzelhaft begonnen, es gab nächtliche Vernehmungen zu Glaubensbrüdern. Seine Mutter durfte den Vater nur einmal im Vierteljahr besuchen, berichtet Böhm, der diese Zeit immerhin bereits als Jugendlicher erlebte. Jüngere Kinder anderer Väter wurden durch lange Haftzeiten oft von diesen entfremdet. Als Jugendlicher hatte Hans-Joachim Böhm Freunde, die ihn auffingen.

Er selbst habe im Nähmaschinenteilewerk schlecht verdient. Also sei er auf Montage gegangen – unter anderem in Vetschau, Lübbenau, Schwarze Pumpe und Leuna. Ihm rutscht dabei der Begriff Zigeunerleben heraus und „dieser bremst den Glauben“.

In dem Wissen, dass auch er die Erfahrung des Vaters nicht vermeiden könne, kam für ihn 1970 mit 24 Jahren als Verlobter die Einberufung. Glaubensbrüder hatten ihm damals gesagt: „Wenn Du kannst, heirate nicht: Viele Frauen stehen das nicht durch.“ Der Wehrdienst betrug damals 18 Monate, eine Haft bei Verweigerung mindestens 19 Monate.
Vor dem Militärbezirksgericht in Dresden hieß es – ohne Verteidiger – im Hinblick auf einen mitangeklagten Glaubensbruder zum Beispiel, er habe das Betriebsabitur, seine Ausbildung „ausgenutzt“ und gebe dem Staat nun nichts zurück.
Der Vorwurf, der Staat kümmere sich um die Ausbildung und man müsse etwas zurückgeben, galt als besonderer Nachteil von Zeugen Jehovas, die irdischen Mächten an sich nicht huldigen, sich weder politisch engagieren, Nationalhymnen zum Beispiel daher nicht mitsingen, aber auch nicht in Demonstrationen den Staat hinterfragen. Vor Gericht argumentierte Hans-Joachim Böhm: „Ich schätze mich glücklich, in dieser Zeit leben zu dürfen“, erinnert er sich an seine damalige Strategie. Denn im Nationalsozialismus habe ja das Fallbeil seine Arbeit getan, weil eine Kugel als zu schade für Verweigerer galt. „Und ich weiß: Sie sind humanistisch eingestellt“, fügte er an. 1970/71 saß er seine Strafe ab. Ein halbes Jahr davon in der Dresdner Stasi-Untersuchungshaftanstalt, dem Arbeitskommando Schießgasse. „Der wegen Republikflucht verurteilte Brigadier war uns wohlgesonnen“, erinnert sich Böhm, zunächst vergleichsweise gut davongekommen zu sein.
Später habe er aber erfahren, dass seine Verlobte manche Briefe nicht bekommen habe, umgekehrt sei auch viel geschwärzt gewesen. Den zweiten Teil seiner Haft hatte auch er im berüchtigten Gelben Elend verbringen müssen. Vielleicht auch, weil er einen Mithäftling zuvor nicht denunziert hatte. Hans-Joachim Böhm bekennt, er habe nach 1990 nie seine Akte lesen wollen. „Ich könnte das Geschehene anderen vielleicht nicht verzeihen“, meint er. Und, er habe durch seinen Vater ja vorher auch gewusst, was in Bautzen kommt.

Schwerer wog für ihn der Schicksalsschlag, dass seine Frau, die als Verlobte seine Haftzeit miterduldete, 1997 infolge eine ärztlichen Fehlers nach einer Operation verstarb. Seine jetzige Frau Bozena aus Penzig (Piensk) lernte er über die Gemeinde kennen. „Zur Wende hatten wir in Görlitz etwa 400 Mitglieder, auf polnischer Seite dazu sogar noch einmal mehr, wobei dort das Hinterland recht weitläufig war“, berichtet er und hat auch noch eine kleine Anekdote aus der Spätphase der DDR in petto.

1987 habe er eine Reise zu einem Glaubenskongress in Ulm angetreten. Heikel war, dass seine Mutter bezeugte, die Reise gelte einer Familienfeier bei einer Tante. Doch diese gab es gar nicht. Am Ende sei er mit dem doppelten Reisegepäck heimgekehrt, denn statt der bis dahin in der Gemeinde genutzten Kopien und Abschriften gab es im Westen echte Druckerzeugnisse. Getragen habe ihn in schweren Zeiten stets ein Wort, das in der späten DDR Karriere machte. In Micha 4 (3) stecke die Überzeugung, dass Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln werden können. Vor dem UNO-Gebäude in New York finde sich sogar eine künstlerische Umsetzung dieses Bibelzitats, hebt er die Bedeutung hervor.

Till Scholtz-Knobloch / 24.02.2024

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